Eine alte Konstruktion lebt neu auf

Aus der Vogelperspektive klar erkennbar: Die Faserrichtung der Sitzflächen sowie die Lage des Keils bei zwei verschiedenen Konstruktionen. Bilder: SchreinerZeitung

Stabellenhocker.  Technologien mögen sich ändern, aber Holz bleibt Holz. Die Eigenschaften des Werkstoffs muss man mit CNC-Technik genauso meistern wie früher mit Handwerkzeug. Der unscheinbare Stabellenhocker zeigt seine konstruktiven Knacknüsse ganz anschaulich.

Mit «Niû» gewann vor Kurzem am ersten WoodAward des VSSM ein relativ unspektakulärer Entwurf die begehrte Trophäe des Möbeldesigns. Was im vierbeinigen Tisch und dem dazugehörigen dreibeinigen Hocker zum Ausdruck kommt, ist traditionelle Handwerkskunst in ihrer Reinform, umgesetzt mit modernstem Werkzeug der Möbelproduktion. Tisch und Hocker wurden von den Designerinnen Christine Urech und Simone Hölzl nach den Gesetzen der Stabelle konstruiert, bei denen die Beine durch die Sitzfläche hindurchragen und mit Keilen fixiert werden.

Den Dreh rauskriegen

Die Designerinnen haben mit ihrem Entwurf nicht nur formal an Traditionen angeknüpft, sondern auch das Produktportfolio der Schreinerei Feldmann + Co in Lyss berücksichtigt, welche das Möbel für den Wettbewerb produzierte. Spezialität des Unternehmens sind verdrehte Spindeln und Auszugstreppen. Die Sprossen von Letzteren fixiert die Firma traditionsgemäss mit Keilen in den Holmen.

Den Erfahrungsschatz des Unternehmens nutzten die Designerinnen, indem sie dieselbe Verbindungstechnik in der Kollektion «Niû» zum Ausdruck brachten. Da sind es nicht Sprossen, die in Holmen stecken, sondern Beine, welche durch einen abgesetzten Zapfen in der Sitzfläche Verankerung finden. Durch den Dreh der Beine ist gewährleistet, dass die Stabelle stabil steht und dank dem rechteckigen Zapfen am Punkt der Anbindung gegen Verdrehen geschützt ist.

Ehrliche Möbel sind gefragt

Dass im Design zurzeit schlichte Konzepte gefragt sind, denen zusätzlich noch ein bisschen Witz und Originalität anhaftet, beweist ein weiteres Beispiel: Kürzlich prämierte auch die Blickfang-Jury mit einem Hocker von Schreiner Heinz Baumann einen zurückhaltenden Entwurf mit gut gelösten Details, der ehrlich und bescheiden seinen Zweck erfüllt.

Die Möbelmanufaktur – so heisst Baumanns Firma – hatte an der Blickfang auch einen Stabellenhocker am Start. Bei «Fiore» ragen die drei runden Beine durch die Sitzfläche hindurch und werden von oben mit Keilen fixiert. Baumann stört sich etwas daran, dass die meisten Leute in erster Linie nur das Kleeblatt sehen, denn «die Form entsteht durch und durch aus den Eigenschaften des Materials», erklärt er. In der Sitzfläche habe er das Runde der Beine wieder aufgenommen. So sei die blumige Form entstanden, die dem Möbel schliesslich auch den Namen gab. Eine solche Sitzfläche aus längs verleimtem Massivholz herzustellen, wäre seiner Meinung nach nicht möglich gewesen. Also hat Baumann den Sitz aus drei Massivholzteilen sternförmig unter Zuhilfenahme von Federn verleimt.

Die Faserrichtung einplanen

Dank der sternförmigen Verleimung läuft die Maserung der Sitzfläche nun zur Mitte hin. Das bringt den Vorteil, dass die Beine in der Richtung der Beanspruchung gegen Hirnholz drücken und damit stabil in der Sitzfläche verankert sind. Entsprechend wählte Baumann die Richtung des Keils: Dieser sitzt quer zur Faser stirnseitig in den Beinen. Mit der Laufrichtung soll vermieden werden, dass sich die Sitzfläche spaltet; denn: «Nicht nur beim Einschlagen des Keils entstehen Kräfte, sondern auch während des Gebrauchs», warnt Baumann. «Besonders durch Feuchteveränderungen entstehen grosse Kräfte im Holz», ergänzt er. Je nach Ort des Gebrauchs seien diese nicht zu vernachlässigen. Dementsprechend zieht er in Zweifel, ob «Niû» wirklich auch halten wird, was er verspricht.

Schwierige Wahl der Dimensionen

«Für den Wettbewerb sind wir mit der Materialisierung ganz klar an die Grenzen gegangen», erklärt Christine Urech, Co-Gestalterin des angesprochenen Hockers. Michael Aeschlimann von der Schreinerei Feldmann seinerseits gibt jedoch zu bedenken, dass die Rahmenbedingungen eines Wettbewerbs etwas andere seien als diejenigen der Serienproduktion. «Sollte der Stabellenhocker nun in die Produktion überführt werden, müssen wir die Dimensionen nochmals prüfen», sagt er. Über die Konstruktion hat das Entwicklungsteam vorgängig gründlich nachgedacht. Die Sitzflächen werden deshalb so auf die CNC aufgespannt, dass einer der drei Zapfen rechtwinklig zum Faserverlauf ausgerichtet wird, während die beiden anderen 30° schräg zur Laufrichtung des Holzes zu liegen kommen. «Verheerend wäre es, die Lage der Beine so zu wählen, dass der Keil am Ende in Faserrichtung eingetrieben werden müsste», warnt Aeschlimann. Es ginge nicht lange, und die Fläche wäre entzwei.

Ein weiterer, für die Stabilität der Konstruktion entscheidender Faktor, ist die Stärke der Sitzfläche an sich. Beim Stabellenhocker «Niû» misst diese mittig 25 mm. Um leicht zu wirken, verjüngt sie sich zum Rand hin. «Wir wollten die Sitzfläche filigran gestalten», sagt Urech dazu. «Sie soll nicht von den Beinen ablenken.»

Bewährte Konstruktion

Dass die Dicke der Sitzfläche für die Stabilität der Beine mitentscheidend ist, weiss man schon lange. Aus diesem Grund sind fast sämtliche alten Stabellen mit Gratleisten gebaut. Sie verdicken einerseits die Sitzfläche und ermöglichen eine feste Verankerung der Beine, andererseits gewährleisten sie, dass die Massivholzfläche sich nicht wölben kann. Trotzdem sind uralte Stabellen ohne Gratleisten im Umlauf, die auch heute noch stabil sind.

Das weiss unter anderen Peter Marmet. Der Antikschreiner hat in seiner 33-jährigen Tätigkeit bereits manche Stabelle zu Gesicht bekommen. Zu den wertvollen, alten Möbeln kommt er über Schatzungen bei Nachlässen. Es werde jedoch zusehends schwierig, wirklich antike Stücke zu kriegen, erzählt er – «unberührte Exemplare», wie er sagt, «die noch keine Wert vermindernde Spuren von laienhaften Reparaturen aufweisen».

Die Holzwahl ist entscheidend

In welchem Zustand der Wahlbündner seine Möbel erhält, hängt unter anderem vom Holz ab, in dem diese konstruiert worden sind. Feinjährige, langsam gewachsene Bäume sind gerade für gewagte Konstruktionen besonders gut geeignet. Eine Massivholzsitzfläche ohne Gratleiste sollte gemäss Peter Marmet mindestens eine Dicke zwischen 30 und 35 mm aufweisen. Genau lasse sich das aber nicht sagen, zu unkontrollierbar seien die Auswirkungen von verschiedenen Holzarten oder Wachstumseinflüssen. Und noch einen Punkt möchte der Antikschreiner genannt haben: Es komme darauf an, zu welchem Zeitpunkt man das Holz fällt. «Auf diesen Aspekt wurde früher mehr Wert gelegt als heute», sagt er. Deshalb sind die meisten Stabellen noch intakt, wenn sie beim Restaurator ankommen. Ihre Sitzfläche besteht in der Regel aus feinjährigem Lärchenholz, die Beine oft aus Fichte. «Der Keil ist mit Vorteil in einer härteren Holzart gefertigt», so Marmet.

Auf der Suche nach Schwachstellen

Trotz sorgfältiger Auswahl des Holzes und fachmännischer Konstruktion: Jedes Möbel bricht irgendwann auseinander, wenn man es zu stark belastet. Aus diesem Grund planen Designer und Konstrukteure manchmal Sollbruchstellen ein. Diese setzen sie dann an Orten, wo eine allfällige Reparatur möglich ist. Der Hocker «Fiore» von Heinz Baumann dürfte in den drei Fugen zwischen den einzelnen Blättern besonders anfällig sein. Schwindet das Holz zu sehr ab, könnten sich diese aussen leicht öffnen.

Demgegenüber wird die Schwachstelle von «Niû» wahrscheinlich in der Sitzfläche liegen. Das ist sich Michael Aeschlimann bewusst. «Wenn der Hocker brechen würde, dann dort», räumt er ein.

Dass auch mit Gratleisten verstärkte Stabellenhocker nicht immer unbeschadet die Zeit überdauern, beweisen einzelne Exemplare, die man bei Peter Marmet in der Werkstatt findet. «Manchmal ist die Sitzfläche mittig gespalten», sagt er. Das rührt daher, dass die Beine durch Gratleiste und Sitzfläche hindurchragen. «Der Sitz ist somit abgesperrt», erklärt der Antikschreiner. Weil jedes Holz über die Jahrhunderte in der Regel abschwindet, reisst es dann an der schwächsten Stelle. Heinz Baumann kennt aus seiner Zeit als Restaurator eine Lösung für dieses Problem: «Bei Hockern mit Gratleisten muss man jeweils ein Bein zwar durch die Gratleiste, nicht aber durch die Sitzfläche führen», rät er. So könne die Konstruktion die Schwindmasse des Holzes ausgleichen.

Die Zeit wird es zeigen

Häufig muss Peter Marmet an alten Hockern Hand anlegen, weil einfach die Beine wackeln. Diese fixiert der Spezialist dann mit einem weiteren Keil. «Die Verbindungen mancher Stücke enthalten noch Knochenleim», gibt er Einblick in die Verbindungstechnik in der Gotik und Renaissance. Die Fugen werden dann sauber getrennt und mit modernem Klebstoff erneut verleimt.

Ob Proportionen, Materialien, Konstruktionen oder Verleimungen von heutigen Stabellenhockern die nächsten 100 Jahre überdauern werden, kann nur die Zeit zeigen. Trotz oder gerade wegen der erschwerenden Faktoren ist die Stabelle für den Schreiner jedenfalls ein interessantes Produkt: Es bietet Gelegenheit, sich als Fachmann im Bereich Massivholz auszuzeichnen.

www.niuform.chwww.felma.chwww.moebelmanufaktur.chwww.marmet.biz

Kuriosität

Sitzen für Beleibte

Dass es die Menschen auch in vergangenen Zeiten gerne gemütlich hatten, davon zeugt der sogenannte «Schmersammler», was so viel heisst wie «Fettsammler». Das besonders bequeme Sitzmöbel mit den Staketen verdankt seinen Namen der Tatsache, dass die Leute darauf gerne sitzen blieben und es sich wohl ergehen liessen. Umgekehrt übte der Stuhl aufgrund seiner Proportionen auf korpulente Personen wohl besondere Anziehung aus. Interessantes Detail beim abgebildeten Modell aus dem Bündnerland: Die Gratleiste ist mittig in der Sitzfläche positioniert. Die Konstruktion hat den Vorteil, dass die Beine hier nicht durch die Gratleiste hindurch in der Sitzfläche verankert sind.

MW

Veröffentlichung: 04. April 2013 / Ausgabe 14/2013

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