Aufbruch zu neuen Zielen

Kreativ sein und Neues zulassen. Der Schreiner Claudio Springer ist auf dem besten Weg in eine neue berufliche Zukunft. Bild: Beatrix Bächtold

Neubeginn.  Die Stiftung WQ Solothurn bietet Berufsleuten aus der Holzbranche, die ihre Tätigkeit krankheits- oder unfallbedingt nicht mehr ausüben können, einen Plan B. Gerade haben wieder neun von zehn Absolventen einen neuen Job in der Branche gefunden.

Ein Traumtag im Oktober 2016. Der gelernte Schreiner Roman Kiser hebt mit dem Gleitschirm ab, schwebt in den Wolken, geniesst die Aussicht und ist so richtig happy. Dann stürzt er ab – beide Beine sind schwer verletzt. «Ich hatte Glück. Es hätte noch schlimmer kommen können», meint der 57-Jährige heute rück- blickend.

Doch damals stand schnell fest, sein Handwerk, wie er es kannte und liebte, würde er nie mehr ausüben können. Das war vor fünf Jahren. Nach einer 22-monatigen Wiederqualifizierung, 18 Monate davon in der Stiftung WQ Solothurn und 4 als Praktikum bei seinem heutigen Arbeitgeber, ist er heute als Projektleiter Avor in einer klassischen Schreinerei in der Innerschweiz beschäftigt. Doch der Wechsel vom Hobel zur Computermaus war für den früher so sportlichen Mann kein Spaziergang, sondern ein anspruchsvoller Marathon.

Es brauchte Mut und Durchhaltewillen. «Ich wusste schon, dass da einiges auf mich zukommt. Die Stiftung WQ Solothurn ist eine prima Sache. Sie hat mich nicht nur gut vorbereitet und gerüstet für den Berufsalltag, sondern hat auch mein Selbstvertrauen in der schwierigen Situation gestärkt», sagt er.

Seit einem halben Jahr arbeitet Kiser nun am Schreibtisch. Von Tag zu Tag erreicht er mehr Sicherheit und Befriedigung in seinem neuen Arbeitsumfeld. «Es ist nicht so, dass man einen Schalter umlegen kann und plötzlich ist alles im grünen Bereich. Mit der Verantwortung im Betrieb steigt auch der Druck. Man will sich beweisen und beisst sich durch. Aber ich spüre, dass es gut kommt», sagt er. Kiser hat es geschafft. Mit all seinem Wissen, seiner Erfahrung und seiner Leidenschaft fürs Holz blieb er der Branche erhalten.

Holzbranche als Sonderfall

Genau das war die Absicht des Solothurner Schreinermeister-Verbands, als er 1993 die «Stiftung Schreinerschule Solothurn» ins Leben rief, um verunfallte oder an einer Krankheit leidende Schreiner für einen Job innerhalb der Branche umzuschulen. Seit 2016 heisst die Einrichtung «Stiftung WQ Solothurn», wobei WQ für Wiederqualifizierung steht. Damals öffnete man das Angebot auch für weitere Berufsleute aus der Holz- und angrenzenden Baubranche. Mittlerweile startet im modernen Ausbildungszentrum im Solothurner Industriegebiet Obach jeweils im Frühling und im Herbst eine Gruppe von acht bis zehn Fachleuten.

Jährlich finden also bis zu 20 Berufsleute wie Roman Kiser wieder auf irgendeine Art zurück in eine holznahe Berufswelt. Und wie Schreiner nun mal sind, machen sie das sehr konsequent. «Wenn jemand abbricht, dann meistens aus gesundheitlichen Gründen. Da besteht auch die Möglichkeit, später wieder einzusteigen», sagt Marc Roth , Co-Geschäftsleiter und Leiter Wiederqualifizierung bei der Stiftung. Keine andere Berufsgattung in der Schweiz kennt so ein Angebot. Nach dem Grund dafür gefragt, sagt er: «Die Holzbranche eignet sich perfekt für die Wiederqualifizierung, weil in den Hölzernen speziell viel Herzblut und Begeisterung für die Branche verankert ist. Zudem nimmt der Planungsteil in den Betrieben laufend zu. In diesem Bereich sind heute mehr denn je Leute mit Erfahrung gesucht. Der Markt ist da.» Ziemlich konstant verzeichnet die Stiftung WQ Solothurn eine Erfolgsquote von 90 Prozent. Das heisst, neun von zehn betroffenen Berufsleuten aus der Deutschschweiz finden eine neue Existenz in der Holzbranche.

Vom Schicksal eiskalt erwischt

Wie zum Beispiel Claudio Springer. Seit Sommer 2020 nimmt der 34-jährige Familienvater jeden Morgen um 7 Uhr am Zürcher Hauptbahnhof den Zug nach Solothurn. Um 8.25 Uhr beginnt der Unterricht. Um 15.40 Uhr ist Feierabend. Zu Mittag isst Springer in der Gruppe. Bei schönem Wetter stellt man einen Grill ins Freie. Ein Mikrowellenofen und eine Kaffeemaschine stehen zur Verfügung. Das Grüppchen mit einem Altersdurchschnitt von 40 Jahren hat es gut zusammen. Schliesslich ist man ja aus dem selben Holz geschnitzt.

Mittwochs arbeitet Springer im Selbststudium zu Hause. Es war vor zwei Jahren, als ihn das Schicksal eiskalt erwischte. Das Kribbeln in der linken Hand hielt er zuerst für eine Verspannung. Ging zur Physiotherapie. Dann, an einem Sonntag im Oktober 2019, konnte er morgens schlecht aufstehen. Er hinkte. Von Stunde zu Stunde stärker. Als er am Montagmorgen zur Arbeit wollte, konnte er sich überhaupt nicht mehr bewegen. Als er einige Zeit später die Diagnose Multiple Sklerose (MS) erhielt, war das für ihn ein Schock. «Seit 18 Jahren arbeite ich als Bankschreiner im Bereich Innenausbau, Küchen, Möbel im gleichen Betrieb. Das machte mir Freude. Jetzt sollte damit Schluss sein? Dieser Gedanke und die Existenzangst für mich und meine Familie waren für mich das Schlimmste», sagt er heute rückblickend. Zum Glück hatte der Arbeitgeber Verständnis. Das ist nicht immer so. MS verläuft häufig in Schüben mit neurologischen Beschwerden wie Muskelschwäche, Sprech- und Sehstörungen. Und solche Schübe unterbrechen mit Wucht beschwerdefreie Zeiten.

Bei so diffusen Beschwerdebildern kann es leicht vorkommen, dass der Betroffene als Simulant erscheint. Einen Vorwurf muss sich Springer nicht machen. Schliesslich lebte er immer gesund. Neben seinem Schreinerberuf machte er sogar eine Ausbildung zum Personaltrainer, war stolz auf seine eigene Homepage und plante die Selbstständigkeit. MS machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

Umgehen mit Druck

Nach Erhalt der Diagnose meldete er sich bei der IV an. Dort machte man ihn auf die Möglichkeit einer Umschulung aufmerksam. Aber in welchem Beruf?

«Bei vielen Jobs wurde körperliche Robustheit vorausgesetzt. Ich suchte einen Job, den ich trotz eines weiteren MS-Schubs ausführen konnte. Da fielen schon mal viele weg», sagt er. Und eine neue Lehre wollte er auch nicht mehr beginnen. Nach der Anmeldung bei der IV blieben Springer maximal 18 Monate Zeit zum Start einer Umschulung. Er geriet unter Druck. Die Zeit lief davon. «Glücklicherweise machte mich die IV-Beraterin auf die Stiftung WQ in Solothurn aufmerksam, wo ich mich dann auch gleich meldete», sagt er. Nach einem Informationsgespräch wurde er zu einem zweitägigen Assessment, einer Standortbestimmung der Fähigkeiten und der Erwartungen, eingeladen.

«Am ersten Tag gleich vier berufsbezogene Prüfungen. Fachkunde, Verbindungsmöglichkeiten, Material, Montage und so weiter. Ich war aufgeregt und die vielen Eindrücke machten mich im ersten Moment auch ein bisschen unsicher. Schliesslich ging es ja um meine Zukunft», berichtet er. «Nach dem ersten Tag fragte ich mich wirklich, ob das der richtige Weg für mich sein würde und ob ich das überhaupt schaffen könne. Meine Frau ermutigte mich aber weiterzumachen.»

Licht am Horizont

Zum Glück hat sich Springer entschieden weiterzumachen, denn bereits am zweiten Tag, während der persönlichen Gespräche, sah er Licht am Horizont. «Irgendwie machte es bei mir Klick. Coach Beat Suter war für mich so etwas wie ein Adapter. Ich fühlte mich verstanden und sah eine Perspektive. Es hat einfach gepasst», berichtet er.

Beat Suter ist selber auch gelernter Schreiner. «Ich komme aus der Möbelbranche mit hoher Affinität zum Massivholz und zur Erwachsenenbildung», sagt er. Seit 2017 ist er Fachdozent und Coach bei der Stiftung WQ Solothurn. «Bevor die Teilnehmenden zu uns kommen, sind sie starke Fachleute, die Profis auf der Baustelle oder in der Werkstatt. Sie wissen alles, kennen sich aus, und jetzt sitzen sie vor dem Computer und wissen gar nichts mehr», sagt er.

So gesehen erkämpfen sich die Teilnehmenden innerhalb von nur 22 Monaten nicht nur einen neuen Beruf, sondern auch eine neue Rolle, eine neue Identität. «Das kostet viel Kraft. Nicht physisch, sondern psychisch», sagt er. Im Wesentlichen geht es bei der Wiederqualifizierung deshalb darum, dass sich die Teilnehmenden mit der Situation auseinandersetzen, das Ganze als Chance sehen und ein Umdenken stattfindet. Das Alte loslassen, das Neue zulassen», erklärt Suter.

Man lernt nie aus im Leben

Doch nun zurück zu Claudio Springer. Während der 22-monatigen Wiederqualifizierung erhält er von der IV des Kantons Zürich 80 Prozent seines versicherten Lohnes plus Spesen. Ende 2021 wird der schulische Teil seiner Wiederqualifizierung enden. Danach folgt ein viermonatiges Praktikum bei seinem zukünftigen Arbeitgeber.

Im Frühling 2022 wird es Claudio Springer dann geschafft haben. «Getragen von der positiven Gruppendynamik und unterstützt von Top-Dozenten, die wirklich individuell auf die verschiedensten Teilnehmenden eingehen, packe ich es», sagt er und in seiner Stimme schwingt ein bisschen Stolz mit. Apropos Stolz. Für seine beiden Töchter Elena und Chiara ist er nicht nur der Held, sondern auch ein Beispiel dafür, dass man im Leben nie auslernt.

Springer macht die Umschulung zum Sachbearbeiter Planung, seine berufliche Richtung könnte beispielsweise in Richtung Projektleiter, Planer, Berater oder auch Zeichner gehen. In den kommenden Monaten wird sich das, mit der Suche nach einer Praktikumsstelle in seinem späteren Job, konkretisieren.

Urgestein Peter Hofmann

Peter Hofmann leitet die Stiftung WQ Solothurn seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Unter seiner Regie entwickelte sich die Stiftung immer weiter. «Veränderung empfinde ich persönlich als spannend», sagt er. «Die Zeiten ändern sich, Lebenswege ändern sich und mit ihnen die betroffenen Menschen. Was gleich bleibt, sind die Faszination und die Dynamik.»

Die hohe Erfolgsquote bei der Wiedereingliederung zeigt, dass auch das aktuelle Team der Stiftung WQ Solothurn, unter der Leitung von Marc Roth, alles andere als auf dem Holzweg ist. In der Branche sind die Absolventen der Stiftung WQ Solothurn gefragte Fachkräfte. Schliesslich haben sie bewiesen, dass sie neben fachlichen Qualitäten auch über Biss und Durchhaltevermögen verfügen. Marc Roth teilt sich seit April 2020 die Geschäftsleitung der Stiftung WQ Solothurn mit Peter Hofmann. Er sagt: «Die Betriebe schätzen die Möglichkeit eines Praktikums. Bei Bedarf bekommen sie Unterstützung von uns und bestimmt gute Leute aus echtem Holz.»

Wie eben im aktuellen Fall die neun Abgänger, welche der Branche mit ihrem Können, ihrer Erfahrung und ihrer Liebe zum Holz einfach auf eine andere Art und Weise zur Verfügung stehen.

www.stiftung-wq.ch

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 26. August 2021 / Ausgabe 35/2021

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