Das Thema ist für alle relevant

Vieles geschieht heute in partnerschaftlicher Arbeitsteilung, sowohl im Beruf als auch im privaten Leben. Bild: Shutterstock

Arbeitszeitmodelle.  Ein gutes Nebeneinander von beruflichem und privatem Engagement ist für viele wichtiger als eine Karriere. Oft tritt daher die klassische Rollenverteilung in den Hintergrund. Der VSSM sucht mit einer Umfrage Antworten auf diese Veränderungen.

Der Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten (VSSM) hat mit der Fachstelle «Und», dem Kompetenzzentrum für Vereinbarkeit von Beruf und Familie, eine Umfrage zum Thema «Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben» lanciert. Unternehmerinnen und Unternehmer wie auch Mitarbeitende erhalten Gelegenheit, ihre Bedürfnisse bezüglich Anstellungsbedingungen und Arbeitsmodellen anonym zu äussern. Projektleiter Tobias Oberli erklärt, warum Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben je länger, je wichtiger wird.

Wo ist der Nutzen für Betriebe, wenn sie sich mit der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben auseinandersetzen?
Tobias Oberli: Die gesellschaftlichen Veränderungen – nicht zuletzt auch im Kontext der Pandemie – bringen neue Arbeits- und Familienmodelle mit sich. Die Mitarbeitenden fordern zunehmend flexiblere Arbeitsmodelle ein, wie zum Beispiel Homeoffice oder Teilzeitarbeit. Unternehmen, die dies nicht berücksichtigen, werden es auf dem Arbeitsmarkt mehr und mehr schwer haben. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird in Zukunft zu einem relevanten wirtschaftlichen Erfolgsfaktor – insbesondere hinsichtlich Gewinn und Halten von Personal, Arbeitgeberattraktivität und Gesundheitsmanagement. Auch demografische Herausforderungen kann ein Betrieb dank guter Vereinbarkeit besser in den Griff bekommen. Gleichzeitig fördert Vereinbarkeit die Diversität im Betrieb, und diese wirkt sich wiederum positiv auf die Kreativität, auf die Atmosphäre und auf die Kundenorientierung aus.
Was heisst eigentlich «Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben»?
Vereinbarkeit definieren wir als Mass dessen, wie gut die unterschiedlichen Lebensbereiche in Einklang gebracht werden können. Dem Beruf kommt dabei insofern eine besondere Bedeutung zu, als er für die meisten von uns die materielle Grundlage bildet. Eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben entsteht dann, wenn alle Lebensaktivitäten in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Das kann für jede Person etwas Unterschiedliches bedeuten. Die Balance der Lebensbereiche ist dynamisch, und wenn die Umstände sich ändern, muss ein neuer Ausgleich gefunden werden. Grundsätzlich ist denn auch jede und jeder selbst für eine gute Vereinbarkeit verantwortlich. Ein fortschrittliches Unternehmen kann und muss aus unserer Sicht mit seinen betrieblichen Voraussetzungen wesentlich dazu beitragen, dass diese Verantwortung wahrgenommen werden kann. Gelingende Vereinbarkeit fördert das Wohlbefinden und die Gesundheit der Mitarbeitenden und ist somit eine wesentliche Voraussetzung, dass jede und jeder im Unternehmen in der Lage ist, sich im Beruf motiviert und leistungsfähig zu engagieren.
Welche der vergangenen Projekte waren Ihres Erachtens besonders erfolgreich und warum?
Da gibt es viele Beispiele aus den unterschiedlichsten Branchen. Dieses Frühjahr haben wir im Kanton Graubünden ein Projekt mit 26 KMU aus 19 verschiedenen Branchen erfolgreich abgeschlossen. Es wurden über 100 Einzelmassnahmen umgesetzt. Dazu gehören die Einführung von Topsharing-Modellen, das ist Jobsharing in Führungsfunktionen, bezahlte Ferien für die Angehörigenpflege, die Mitsprache in der Einsatzplanung, die Flexibilisierung der Arbeitsmodelle generell oder die Steigerung der Transparenz hinsichtlich der Lohnpolitik. Von diesen Massnahmen profitierten nicht nur die über 2000 Mitarbeitenden der 26 KMU, sondern auch die teilnehmenden Betriebe. So konnten Fluktuationsraten reduziert werden, und die Mitarbeitenden waren motivierter bei der Arbeit. Die Betriebe haben auch ein «Tool», einen Kriterienkatalog, erhalten, mit dem sie in Zukunft die wichtigen Aspekte der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben aktiv fördern können. Durch dieses Projekt wurden sie in diesem Thema «geschult».
Betrifft das Thema Vereinbarkeit eher Frauen oder Männer?
Wenn wir zehn Jahre zurückblicken, wurde das Thema Vereinbarkeit eher den Frauen und insbesondere den Müttern zugeordnet. Heute betrifft das Thema Vereinbarkeit Männer und Frauen aller Lebensphasen. So wollen zum Beispiel viele junge Eltern die Haushaltarbeit gemeinsam wahrnehmen. Väter übernehmen vermehrt auch Familien- und Betreuungsarbeit. Töchter und Söhne betreuen ihre pflegebedürftigen Eltern. Partner sorgen für einander im Krankheitsfall. Generationen- und geschlechterübergreifend sind alle Menschen gefordert, ihre persönlichen Bedürfnisse und ihr soziales Engagement mit dem Beruf zu vereinbaren und sich entsprechend zu organisieren.
Betrifft Vereinbarkeit auch Schreinerbetriebe?
Ganz klar ja! Das Thema ist für alle Branchen relevant. Die Schreinerbranche hat in den vergangenen Jahren grosse Entwicklungen durchgemacht. Automatisierung, Digitalisierung, Bildungsoffensiven, Nachwuchsförderung und Erhöhung des Frauenanteils sind nur einige Stichworte. Mit dem damit einhergehenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften wachsen auch die Anforderungen und Erwartungen an eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Durch die gezielte Auseinandersetzung mit dem Thema macht sich die Branche fit für die Zukunft.
Welche Schritte kann ein Betrieb tun, damit die Mitarbeitenden Beruf und Privatleben besser unter einen Hut bringen können?
Dafür gibt es kein Patentrezept. Jeder Betrieb hat seine organisatorischen, strukturellen und insbesondere unternehmenskulturellen, spezifischen Rahmenbedingungen. Diese gilt es zu beachten, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben der Mitarbeitenden effektiv und nachhaltig gefördert werden soll. Grundvoraussetzung ist ein gewisses «Gefühl der Dringlichkeit» aller Beteiligten. Damit ist die Einsicht gemeint, dass das Thema für Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermassen relevant und eine Auseinandersetzung damit von Nutzen ist, wenn das Unternehmen als Arbeitgeberin auch in Zukunft erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt bestehen und insbesondere für qualifizierte Mitarbeitende attraktiv bleiben will.
Der VSSM hat mit der Unterstützung der Fachstelle «Und» eine Umfrage lanciert. Was ist das Ziel der Umfrage?
Die Umfrage hat zum Ziel, die aktuelle Situation beziehungsweise den Umgang der Schreinerbranche mit Vereinbarkeitsthemen und den Herausforderungen, die mit neuen Arbeitsmodellen einhergehen, zu erheben. Auf dieser Basis können dann Handlungsschwerpunkte für die Branche definiert und daraus wirksame Massnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben abgeleitet werden.
Was hat die Umfrage des VSSM mit dem Gleichstellungsgesetz des Bundes zu tun?
Das Vorprojekt mit der Umfrage wird vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) mitfinanziert. Eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in den Betrieben ermöglicht Personen mit Betreuungsverpflichtungen im Privatleben, am Erwerbsleben teilzuhaben. Weil die Betreuung von Kindern und kranken Angehörigen nach wie vor mehrheitlich von Frauen wahrgenommen wird, fördert eine gute Vereinbarkeit in den Betrieben die Gleichstellung von Frau und Mann. Aus diesem Grund unterstützt das EBG gezielt Projekte von Trägerschaften wie zum Beispiel des VSSM.

Michèle Ofri

www.fachstelle-und.ch
www.vssm.ch

 

Zur Person

Tobias Oberli (44) ist Ingenieur ETH und Laufbahnberater ZHAW. Er ist Vater von drei Kindern und teilt sich die Haus- und Familienarbeit mit seiner Partnerin. An drei Tagen in der Woche arbeitet er als Berater, Workshop- und Projektleiter für die Fachstelle «Und», das nationale Kompetenzzentrum für Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Er leitet seitens der Fachstelle das Vorprojekt des VSSM zum Thema Vereinbarkeit.

Serie Lohn- und Arbeitszeitmodelle

Die Arbeitswelt verändert sich, neue Berufe werden geschaffen, intelligente Programme und Roboter werden ein- gesetzt, und die Digitalisierung erlaubt ein hohes Tempo. Nur eines blieb unverändert: die 42-Stunden-Woche. Hat das Modell Normalarbeitszeit aus- gedient? Wie sieht das Arbeitsmodell der (nahen) Zukunft aus? Die lose Serie «Neue Lohn- und Arbeitszeitmodelle» geht diesen Fragen nach.

Nicole D'Orazio

www.schreinerzeitung.ch

 

Veröffentlichung: 25. November 2021 / Ausgabe 48/2021

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