Die Bieler Schlange und ihr Vorbild

Abschlussarbeiten an der Gitterkonstruktion aus rund 2800 Waben. Bild: Blumer Lehmann AG

Holzbau.  Der Swatch-Hauptsitz in Biel ist ein Leuchtturm an zeitgenössischer Holzkonstruktion. Rund 40 Jahre vorher konstruierte Architekt Frei Otto in Mannheim (D) eine vergleichbare freitragende und geschwungene Holzhalle mit wesentlich einfacheren Mitteln.

«Sie lagert da wie eine dicke, satte Schlange, die ihre Beute verschlungen hat und träge auf die Verdauung wartet, und auf der gummigrauen Haut spiegelt sich die Sonne matt oder glitzert frisch der Regen: eine Halle, eine Multihalle, bestehend allein aus einem Dach, dem kompliziertesten einfachen Dach der Welt», beschrieb die Wochenzeitung «Zeit» eine architektonische Sensation im Jahr 1975 auf fast schon lyrische Weise. Frei Ottos Multihalle in Mannheim von 1975 ist ein Architekturdenkmal – die grösste freitragende Holzgitterschale der Welt. Die statisch sinnvollste Form wurde mithilfe akribischer Modellbauten erarbeitet. Ganz anders beim vor einem Jahr eingeweihten neuen Swatch-Gebäude in Biel BE, das mit höchster Präzision auf der Höhe moderner Technik geschaffen wurde. Beide Gebäude haben ihren ganz eigenen Reiz – und verkörpern doch eine erstaunlich ähnliche Formensprache.

Wellenförmige Holzkonstruktionen

Das Gitterschalendach der Mannheimer Multihalle erschafft ein ganz eigenartiges, angenehmes Raumgefühl mit einfachsten Materialien. Auch beim spektakulären Neubau von Swatch in Biel wellt sich eine hölzerne Gitterkonstruktion schlangenförmig. 240 Meter lang, bis zu 35 Meter breit und bis zu 27 Meter hoch ist die Holzkonstruktion des Gebäudes. Entworfen wurde der aussergewöhnliche Holzbau vom japanischen Stararchitekten Shigeru Ban. 2014 erhielt er den Pritzker-Preis. Ban wird für seinen Beitrag zu Innovation und Menschlichkeit in der Architektur geschätzt.

Drei separate Gebäude sind unter einem frei geformten Dach – einem gitterförmigen Tragwerk – vereint. Noch während die Holzkonstruktion errichtet wurde, begann der Einbau der insgesamt rund 2800 Wabenelemente, die den grössten Teil der Fassade ausmachen. Die Mehrheit dieser Waben sind opak und mit witterungsbeständiger und lichtundurchlässiger Aussenfolie bezogen, die in erster Linie als Sonnenschutz dient. Andere Elemente bilden eine Art Kissen, das mit Luft aufgepumpt und in der Mitte zur Wärmedämmung mit lichtdurchlässigen Polycarbonat-Platten versehen ist. Die Kissen, die auch der Belastung durch Schnee oder Eis gewachsen sind, werden ständig leicht belüftet, damit sie dauerhaft unter Spannung stehen. Ausserdem gibt es transparente Elemente aus durchsichtigem Glas. Zum Wärmeschutz werden je vier Glasscheiben eingesetzt, zwischen die ein weisses Rollo eingelassen ist. Auch diese Elemente werden immer leicht belüftet, damit sich kein Kondenswasser bilden kann.

Insgesamt wurden knapp 2000 Kubikmeter Holz verbaut, zum überwiegenden Teil Schweizer Fichte. Kein Bauteil kommt in der gleichen Ausführung zweimal vor. Dahinter steckt ein gewaltiger logistischer Aufwand. Die Holzbaufirma Blumer-Lehmann AG aus Gossau SG musste immer das richtige Element zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort haben. Für Blumer-Lehmann war es bereits die vierte Zusammenarbeit mit Architekt Ban, der bekennender Holzfan ist.

Insgesamt waren zehn Monate Bauzeit für die Gitterschale nötig. «Die Form und die einzelnen Träger sind riesig, und die Anforderungen an die Genauigkeit waren sehr hoch. Doch das ist im Holzbau alles machbar», sagt Felix Holenstein, Projektleiter bei Blumer-Lehmann. Besonders herausfordernd sei der Entscheid gewesen, die haustechnischen Leitungsführungen für Elektro-, Klima- und Sprinkleranlage in die Tragwerksebene zu legen. Das hiess, die Detaillierung nochmals komplett zu überarbeiten, und erforderte zusätzliche Abstimmungsrunden mit Holzbauingenieuren und Fachplanern. Es mussten ja alle Durchdringungen bis zum letzten Bohrloch eingemessen und überprüft werden.

Teilweise Vierschichtbetrieb

Damit der Montagetermin eingehalten werden konnte, wurden die Trägerelemente auf fünf verschiedenen Produktionsanlagen von Blumer-Lehmann gefertigt. Die Anlagen wurden teilweise vierschichtig betrieben. Eine weitere Herausforderung war die Planung der Montage. Erst musste man herausfinden, wie Stoss auf Stoss ineinandergreifend montiert werden kann. Dann wurde die Reihenfolge für die Montage festgelegt. Die Reihenfolge beeinflusste wiederum die Produktion der einzelnen Elemente. Sie mussten ja, weil sie schon wegen der unterschiedlichen Krümmungen nur schwer zu lagern waren, in der passenden Reihenfolge produziert werden. «Die grösste Herausforderung war es, die richtigen Teile zur richtigen Zeit auf der Baustelle zu haben», sagte Holenstein. «Das wäre ohne eine dreidimensionale Planung an einem 3D-Modell gar nicht möglich gewesen.»

Vor der Montage wurde ein Leergerüst erstellt und die Auflagepunkte wurden exakt definiert. Die Messdaten dafür konnten aus dem 3D-Modell gewonnen werden. Die Hilfskonstruktion hatte die Hauptkonstruktion bis zur Fertigstellung zu stützen. Die eigentliche Gitterschale entstand in 13 aufeinanderfolgenden Etappen. Angefangen wurde mit der Verankerung der Schwellenelemente. Anschliessend wurde beidseitig von unten nach oben aufeinander zu gearbeitet, bis man an der Firstlinie zusammentraf. Nach fast fünf Jahren Gesamtbauzeit konnte Swatch seinen neuen Hauptsitz Ende September 2019 einweihen.

Mannheimer Vorbild stand vor Abriss

Die Multihalle Mannheim ist bis heute die grösste freitragende Holzgitterschalenkonstruktion überhaupt. Ihr Entwerfer Frei Otto (1925 bis 2015) war ein Vordenker seiner Zeit, immer mehr Ingenieur als Architekt und immer auf der Suche nach Konstruktionsmethoden nach dem Vorbild der Natur, die sich im Leichtbau materialsparend umsetzen liessen. Noch 2015 wurde auch ihm der Pritzker-Preis verliehen, die bedeutendste Auszeichnung für Architekten. Und nur ein Jahr danach wollte man in Mannheim ausgerechnet die Multihalle abreissen – eines seiner Schlüsselwerke. Das Dach drohte einzustürzen. Man hatte die Halle vor Jahren aus Sicherheitsgründen schliessen müssen, und 14 Millionen Euro für die Sanierung wollte der Gemeinderat nicht einfach so aufbringen. Der Abriss wäre mit einer Million deutlich günstiger gekommen. Der Aufruhr, den die Ankündigung verursachte, war gewaltig. Namhafte Architekten meldeten sich zu Wort und waren entsetzt. Der Mannheimer Gemeinderat musste zurückkrebsen. Die Halle wird bis 2023 nun doch saniert.

Dabei hätte die Halle ursprünglich eigentlich nur zwei Jahre lang bestehen sollen – als Blumenhalle für die Bundesgartenschau von 1975. Ihre Baugenehmigung galt bis 1977. Irgendwie machte sich jedoch nie jemand an den Abriss, und das Bauwerk ist bis heute stehen geblieben.

72 Kilometer Dachlatten

Das Dach ist eine zusammenhängende Konstruktion aus 72 Kilometern Dachlatten aus Hemlocktanne. Die Latten wurden zu einem gigantischen, wie eine Hügellandschaft gewellten Gitter verschraubt. Das Ganze ist über 7500 Quadratmeter Dachfläche freitragend. Die Latten wurden zunächst auf dem Boden gitterförmig übereinander gelegt und an ihren Kreuzungspunkten locker verschraubt. So entstand ein Netz mit 34 000 Knoten. Das Lattengitter wurde dann mit Hubvorrichtungen millimetergenau in die endgültige Form gehoben. Otto stellte 50 Gerüsttürme auf Gabelstapler, schob sie unter das Gitter und liess sie die Latten in zahlreichen Teilschritten von unten millimetergenau in die gewünschte Form drücken.

Das Gitterwerk würde auf Belastungen durch Wind oder Schnee mit merklichen Änderungen der Form reagieren, hätte Otto nicht eine Lösung gefunden, die Knoten zu versteifen und diagonale Zugglieder zu integrieren. Tatjana Dürr, Referentin für Baukultur bei der Stadt Mannheim, erklärt die Lösung: «Otto kombinierte an statisch heiklen Stellen zwei übereinander liegende Gitter, die mit Langlöchern versehen waren. Durch diese Löcher wurden die Latten anfangs nur locker miteinander verbunden. Sie liessen sich aber während des Verformungsprozesses im Aufbau noch verschieben. Erst als die endgültige Form erreicht war, wurden sie fest verschraubt. Das sorgte für die nötige Schubsteifigkeit.» Journalisten der «Zeit» erzählte Architekt Otto damals, wie die Latten nach dem Erreichen der richtigen Position so lange millimetergenau gehalten werden mussten, bis Handwerker die Schrauben anzogen und auf diese Weise einen Längsbogen und einen Querbogen nach dem anderen versteift hatten. Der beruhigendste Moment sei für ihn jeweils gewesen, wenn ein Mann drauf stand, während das übrige Dach noch wackelte wie ein Teppich. In den Knoten sorgen Tellerfedern für konstante Klemmkraft. So können Kräfte zwischen den Hölzern übertragen werden. Für Witterungsschutz sorgt ein lichtdurchlässiges, wasserfestes Gewebe, das über die gesamte Konstruktion gespannt ist. Otto rühmte auch «unsere Gebirgstruppe», die bayrischen Dachdecker, die die Kunststoffbahnen auf das bucklige Dach brachten und dafür das ganze Bespannwerkzeug erst erfinden mussten.

Krümmung an Modellen erarbeitet

Um die geeigneten Krümmungswinkel für jede einzelne Dachlatte zu ermitteln, hängte Otto ein Kettennetz an einen Rahmen in der Form des gewünschten Grundrisses. Der Schwerkraft folgend, bildete es durch sein Eigengewicht von selbst die geeignete Form. Die Positionen der einzelnen Knoten im Netz standen für Kreuzungspunkte im späteren Holzgitter. Die Positionen wurden vermessen und das Ganze im Plan umgedreht. So entstand aus dem zugbeanspruchten Hängemodell das druckbeanspruchte gewölbte Dach. Mit den damaligen Computern war das komplexe Gebilde kaum zu rechnen. Otto hatte jedoch, wie bei jedem seiner Bauten, akribisch Modelle anfertigen lassen, an denen er jedes Detail studieren konnte. Er war sicher, es würde funktionieren.

Die Halle hatte am Schluss noch einen praktischen Statiktest zu überstehen. Dafür musste man die für Mannheim zu erwartende maximale Schneelast auf das Dach bringen. Wie macht man das aber bei einem derart verzwickten Dach? Man füllte 200 Mülltonnen mit Wasser und hängte sie an Knoten in besonders sensiblen Dachbereichen. Es zeigte sich, dass die Berechnungen stimmten. Das Dach hielt – und es verformte sich um maximal acht Zentimeter. Einen Millimeter weniger als berechnet.

www.lehmann-gruppe.ch

Alexandra von Ascheraden

Veröffentlichung: 29. Oktober 2020 / Ausgabe 44/2020

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