Ein Stück Eisenbahngeschichte aus Holz

Urs Roth baut seit elf Jahren Lokomotiven aus Holz. Im Hintergrund ein historischer Bauplan. Bild: Franziska Gertsch

Filigranes Handwerk.  In stundenlanger Arbeit fertigt Urs Roth massstabsgetreue Lokomotiven, die nur aus Holz bestehen. Dabei legt er Wert auf jedes kleinste Detail. Die komplizierten Baupläne für seine Objekte kennt der Rentner mittlerweile auswendig.

Ein kleines Meisterwerk, äusserst filigran, mit vielen Details und sauber verarbeitet: Die D1/3 «Limmat», die erste Dampflokomotive der Schweiz, steht hier im Massstab 1:10. Die 1,20 Meter lange Lokomotive, die auch als Spanisch-Brötli-Bahn bekannt ist, besteht komplett aus Holz. Sogar die Armaturen am Heizkessel, der kleine Ölspender oder die Bremsbeläge sind realitätsgetreu nachgebaut. Ihr Erschaffer ist Urs Roth aus Spiez BE. Kein Schreiner, sondern ein Feinmechaniker mit einer grossen Affinität zu Holz. Er baut seit seiner Frühpensionierung vor elf Jahren massstabsgetreue Lokomotiven aus Holz. Eine Sisyphusarbeit. Aus wie vielen Teilen die historischen Triebwagen bestehen, weiss er nicht – aber es dürften nur schon 200 Bauteile sein.

Kreative Baumaterialien

An seiner ersten Lokomotive, einer nicht massstabsgetreuen Dampflokomotive des Typs E3/3 «Tigerli», baute der 69-Jährige ein Jahr lang. Mittlerweile sind bereits fünf Lokomotiven entstanden. Drei davon sind aktuell in Lichtensteig in der Erlebniswelt Toggenburg ausgestellt. Während er das «Tigerli» noch aus einem SBB-Heft nachgebaut hatte, suchte er für die «Limmat» nach den Original-Bauplänen und recherchierte viel. «Im Lokdepot Brugg habe ich die Lok von allen Seiten fotografiert und bin sogar darunter gekrochen, um ihre Machart zu verstehen», sagt er. Der Entstehungsprozess einer Lokomotive ist immer ähnlich: Stück für Stück bereitet Roth die Einzelteile vor, bevor er zum Zusammenbauen übergeht. Oft verwendet er dafür Abfallholz aus Baumärkten oder Schreinereien. Vom Massivholz über verleimtes Holz bis hin zu Furnier erhält er vieles gratis oder günstig. Der Rahmen für den Heizkessel der «Limmat», die aktuell in der Werkstatt steht, ist gar aus einem alten Büchergestell entstanden. Nur selten kauft der Hobbyhandwerker im Baumarkt einzelne Leisten für den Modellbau. Für Details verwendet er auch ungewöhnliche Materialien wie Glacestängeli, Zahnstocher oder hölzerne Schmuckkügelchen. Die vielen winzig kleinen Nieten, die den Heizkessel der «Limmat» zieren, sind millimeterlange Abschnitte der Hölzchen von Medizinal-Wattestäbchen, die feinen Ketten rund um den Kamin der Lok sind aus Peddigrohr entstanden.

Tiefe Fehlertoleranz

Bereitet Roth für die Lokomotive Bauteile vor, dann tut er das schon fast serienmässig, besonders bei solchen, die er immer wieder benötigt. «So lohnt es sich, die Maschinen einzustellen», erklärt er, während er beginnt, mit einer Decoupiersäge das erste von acht Rädern für seine neue Lokomotive auszuschneiden. Seit Anfang 2019 arbeitet er an der Dampflok Eb 3/5 «Habersack». Mit einem digitalen Bauplan und einem Bildbearbeitungsprogramm fertigt Roth direkt am Computer Papierschablonen an. «Trotzdem messe ich jedes Teil nach. Meine Fehlertoleranz ist tief, denn wenn sich auch nur kleinste Abweichungen summieren, passt das Modell am Schluss nicht mehr zusammen», sagt er. Dabei kommt ihm sein früherer Beruf zugute: Als Feinmechaniker arbeitete er mindestens im Hundertstelmillimeter-Bereich.

Indem er mehrere Schichten Holz mit kleinen Nägeln zwischen zwei Platten fixiert, kann er mehrere Teile gleichzeitig sauber schneiden und muss nur wenig nachschleifen. Für den Rahmen und den Unterbau wählt der Bastler Sperrholz, da es weniger arbeitet als Massivholz. Die Lokomotiven verkleidet er in der Regel mit Furnier. Und auch kleinteilige Details wie etwa das aufgesetzte Türchen des Heizkessels oder winzig kleine Flügelmuttern am Kamin entstehen aus Furnier. Drehteile hingegen fertigt er aus Vollholz auf seiner Drehbank. Er hat die ursprünglich für die Metallverarbeitung gedachte Maschine umgerüstet und sich selbst verschiedene Drehstähle angefertigt und zurechtgeschliffen. All seine Kenntnisse in der Holzverarbeitung hat er sich selbst beigebracht. «Aber mein beruflicher Hintergrund hilft mir natürlich sehr. Die Maschinen sind ja ähnlich, nur der Werkstoff ist ein komplett anderer.»

Die Details zur Kür

Sind die wichtigsten Einzelteile bereit, geht es ans Zusammensetzen. Zunächst entsteht das Fahrgestell mit den Rädern, danach folgen das Gestänge und die Bodenplatte mit ihrem Aufbau. Weil er sich so intensiv mit der Lokomotive beschäftigt, kennt Roth die Baupläne seiner Loks mittlerweile auswendig. Viele Einzelteile fixiert er zunächst mit feinsten Holzstäbchen und verleimt sie dann mit wasserfestem Weissleim. Erst am Schluss versieht er seine Lokomotiven mit Details wie Lampen, Treppen, Hebeln oder Flügeln. «Das ist dann sozusagen die Kür», sagt der passionierte Modellbauer lachend. Obschon die Lokomotiven beweglich und mechanisch funktionsfähig wären, sind sie nicht zum Fahren gedacht. «Dafür müsste ich Kugellager einsetzen. Doch ich wollte explizit nur mit Holz arbeiten», sagt er. Kleine Abweichungen vom Original sind manchmal der technischen Machbarkeit geschuldet: So musste er etwa die zahlreichen Geländer der «Limmat», die eigentlich aus einem Stück Metall bestehen, aufgrund der Stabilität mit Verbindungen gestalten.

Günstiges Hobby gesucht

Roth war schon immer von der Eisenbahn fasziniert und leidenschaftlicher Modelleisenbähnler. Als er nach seiner Pensionierung nach einem kostenneutralen Hobby suchte, bei dem auch noch seine Augen mitmachten, entschied er sich für die Arbeit mit Holz. «Holz ist ein schöner und einfach zu verarbeitender Werkstoff, und er ist günstiger als Metall», begründet er.

Der Sammler verkaufte seine 120 Modelleisenbahn-Lokomotiven der Spur N und schaffte sich mit diesem Geld einen kleinen Maschinenpark an. Die Werkstatt im Einfamilienhaus, in dem er mit seiner Frau lebt, ist gut eingerichtet, alle Werkzeuge und Materialien fein säuberlich sortiert.

Arbeitete er an seiner ersten «Limmat» noch rund zwei Jahre lang, bräuchte er heute für eine Lok noch zwei Monate Vollzeitarbeit, schätzt er. Doch er arbeitet immer wieder mit Unterbrüchen. Bei schönem Wetter zieht es ihn hinaus in die Natur.

Neben den Lokomotiven fertigt Roth auch Figürchen und kleine Objekte für ein sogenanntes Diorama. Das Bild, das aus unterschiedlichen Bahnhofsszenen besteht, soll dereinst eine lebendige Kulisse für seine Lokomotiven darstellen. Die einfach gehaltenen Figürchen aus naturbelassenem Bastelholz erinnern an Strichmännchen. Mit einfachen Tricks – da ein angewinkeltes Bein, dort eine Hand an der Mütze – verleiht er ihnen Leben. Würde das Diorama dereinst irgendwo ausgestellt, hätte Roth daran Freude. «Denn obschon mir der Entstehungsprozess am wichtigsten ist und mich dieses Hobby geistig fit hält, freue ich mich auch darüber, wenn die Leute meine Arbeit sehen», sagt er.

fg

Veröffentlichung: 14. Mai 2020 / Ausgabe 20/2020

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