«Gib mir Geduld. Aber schnell!»

Wer als Handwerker in Afrika arbeitet, muss ein Meister der Improvisation sein. Bild: Philipp Schlatter

Zusammenarbeit.  Reist der Schreiner Philipp Schlatter nach Kamerun, hat er mehr Werkzeug als Kleider im Gepäck. Meterstab, Gehörschutz und Handhobel lässt er dann in Afrika. Erfahrungen und Eindrücke nimmt er mit in die Schweiz – und zwar reichlich.

Philipp Schlatter aus Sünikon ZH hat Glück. Das weiss und betont er auch. Als gelernter Schreiner und mit dem «Bachelor of Science» in Holztechnik in der Tasche arbeitet der 30-Jährige bei der Schlatter Innenausbau GmbH in Steinmaur ZH. Mit seinem Vater Fritz Schlatter leitet er das Familienunternehmen. An der Wand neben seinem Schreibtisch hängen Fotos von Nashörnern und Palmen. Durch die offene Tür zur Werkstatt sieht man drei Schreiner und einen Lernenden an Hobelbänken arbeiten. Seit Jahrzehnten ist man stark im Innenausbau, fertigt Küchen und Möbel an. «Aus Leidenschaft zum Holz», wie man auf der Website erfährt.

Zuerst Neuseeland, dann Afrika

Philipp Schlatter hat diese Komfortzone schon mehrmals verlassen. Gleich damals nach der Lehre, als er für ein Jahr nach Neuseeland ging. «Auch um Englisch zu lernen», sagt er. Als später im Rahmen seiner Ausbildung an der Fachhochschule Biel ein Jahr Praktikum auf dem Programm stand, zog es ihn nach Kamerun. «Auch um Französisch zu lernen», sagt er und fügt dann hinzu, dass die Sprache der internationalen Diplomatie in Kamerun zwar ein wenig anders klinge als beispielsweise in Lausanne. Aber in einer Schreinerwerkstatt des zentralafrikanischen Landes gehe es auch gar nicht darum, geschliffen zu parlieren. «Mit der flachen Hand über die Holzfläche streichen und anerkennend durch die Zähne pfeifen – jeder Schreiner der Welt versteht, was man damit sagen will», sagt er.

Jedenfalls: Im Jahr 2017 steigt Philipp Schlatter in den Flieger und landet nach rund 14 Stunden in Yaoundé. In der Hauptstadt Kameruns leben rund 2,5 Millionen Menschen. Strom gibt es oft. Wasser meistens. Er wird am Flughafen abgeholt. Nach einer halben Stunde Fahrzeit ohne erkennbare Verkehrsregeln, durch unbeleuchtete aber belebte Strassen, kommen er und sein Fahrer in der Ausbildungs- und Produktionsstätte auf einer Anhöhe an, dem Mont Fébé. Die Ausbildungsstätte, in der Schlatter ein Jahr lang leben wird, gehört zum Kloster Mont Fébé und dieses wiederum zum Kloster Engelberg. Von dort stammt auch Bruder Gerold Neff, der Benediktinermönch, der diese Ausbildungsstätte für Schreiner ins Leben rief und in 57 Jahren rund 700 Lehrlinge zum Abschluss führte. Bruder Gerold verstarb kürzlich im Alter von 93 Jahren und wurde im Kloster Engelberg beigesetzt.

Schreinerleidenschaft ist gleich

Die Schreinerei auf dem Mont Fébé ist wohl die grösste und renommierteste im ganzen Land. Als Ausbildungsstätte geniesst sie einen hervorragenden Ruf. Jährlich werden etwa zwanzig Jugendliche im Alter von 15 bis 22 Jahren ausgebildet. Sieben davon schaffen die Prüfung nach vier Jahren. «Viele scheiterten nicht wegen mangelnder Motivation, sondern wegen der Kosten. Der Werkstatt ist nämlich auch ein Internat angegliedert. Das kann sich nicht jeder leisten», sagt Schlatter. Ein weiteres Problem ist, dass die ausgebildeten Schreiner kaum Arbeit finden. Obwohl in Kamerun Handwerksberufe von kontinuierlicher Aufwertung profitieren, bleibt den frischgebackenen Schreinern nur der Schritt in die Selbstständigkeit. Aber ohne Produktionsmittel kein Unternehmen. Ohne Geld keine Produktionsmittel. Ein Teufelskreis.

Termiten mögen europäisches Holz

Weil Kamerun nahe am Äquator liegt, brauchte er nie einen Wecker. «Punkt sechs ist es taghell. Nach Baguette und Kaffee ging ich in die Werkstatt», erzählt er. Die Abläufe dort sind ähnlich wie in der Schweiz. Der Unterschied ist, dass vieles ohne grosse Vorplanung entsteht. «Die Auszubildenden sind nicht so gut im Interpretieren von Plänen. Dafür sind sie aber Meister im Improvisieren während der Herstellung», sagt er. Vorausdenken macht in Yaoundé schon deshalb keinen Sinn, weil sich die Verfügbarkeit von Ressourcen und damit die Ausgangslage während der Arbeit laufend ändert. Fällt dann noch der Strom aus oder versiegt das Wasser, ist sowieso erst einmal Pause. Und dann erzählt Schlatter von einem Holztrockner, der irgendwie nicht mehr dicht war und deshalb nicht funktionierte. Man nahm ihn auseinander und konnte fast nicht glauben, was man sah. Abertausende von Termiten waren gerade damit beschäftigt, die gesamte hölzerne Unterkonstruktion zu vertilgen. «Während einheimische Hölzer resistent sind, war dieses europäische Holz für diese Insekten eine Delikatesse», sagt er. Etwas später entdeckte er in einer Ecke der Werkstatt eine Längskreissäge, ideal geeignet für die Bearbeitung von Massivholz. Schlatter fragte nach, warum man denn nie mit dieser Maschine arbeitete. Diese Frage löste allgemeines Schulterzucken aus. Keiner wusste so richtig Bescheid, denn die Machine war defekt. Also bot er einen Elektriker auf. Nach einer Woche kam dieser. Nach einer weiteren Woche war sie wieder kaputt. «Weil Ersatzteile Mangelware sind, repariert man Provisorien mit Provisorien», sagt er. Eine andere Wahl hat man nicht. Entweder man stellt ein Ersatzteil selbst an der Drehbank her, oder man holt den Schlosser im Dorf. «Man muss einfach ein bisschen suchen und erfinderisch sein», sagt er. Neue Maschinen zu kaufen, ist unmöglich. «Das Lohnniveau ist abgrundtief. Man erwirtschaftet schon einen kleinen Gewinn, aber eben zu wenig, um neues Material anzuschaffen. Ich verdiente zum Beispiel 230 Euro im Monat und war damit ein Besserverdiener», sagt er.

Apropos Finanzen: Der Schreiner in Kamerun nimmt erst dann das Holz in die Hand, wenn der Auftraggeber bezahlt hat. Verarbeitet wird nur Massivholz. Spanplatten kommen wegen der hohen Luftfeuchtigkeit nicht zum Einsatz. Hergestellt werden verschiedene Möbel. Stark ist man auch im Innenausbau. Holzwände, Holzdecken und Treppen gelten als hochwertiges Statussymbol. Viele Aufträge betreffen auch das «La Dernière Maison», das letzte Zuhause, wie man in Kamerun den Sarg nennt. Je einflussreicher der Verstorbene, desto edler das Holz und prunkvoller das Stück.

Was heisst pünktlich?

Die Menschen in Kamerun beschreibt Schlatter als herzlich, hilfsbereit und grosszügig. «Ich durfte mein Bier nie selber zahlen. Die Einladungen abzulehnen, war unmöglich», sagt er. Ins Rugby-Team von Yaoundé wurde er ohne grosse Formalitäten aufgenommen. Und als er mit Malaria im Spital lag, brachte ihm der langjährige Direktor der Schreinerei Joseph Kamto Wasser zum Trinken. Ausserhalb der Besuchszeiten verschaffte sich dieser einfach lautstark Zutritt. «Es ist nicht so, dass in Afrika nichts funktioniert. Aber es funktioniert einfach anders. Ich lehrte meine Schülern CAD-Pläne am Computer zu zeichnen, aber ich lernte auch viel von ihnen», sagt er. So zum Beispiel, dass es sich lohnt, Luftschlitze in Türen von Schränken anzubringen. Das sorgt nicht nur für Durchlüftung. Der gebrochene Luftwiderstand lässt die Automatik beim Schliessen der Türen besser funktionieren. Auch spezielle Formen von Holzgriffen hat Philipp Schlatter von seinen afrikanischen Berufskollegen übernommen. Über das Handwerkliche hinaus hat er aber auch gelernt, Ruhe zu bewahren und mehr im Augenblick zu leben. «In Afrika kann man gar nicht pünktlich sein, weil niemand pünktlich ist. Es hat gar keinen Sinn, es auch nur ansatzweise zu versuchen. In der Schweiz geht das nicht. Da ist man pünktlicher als pünktlich. Wenn alle pünktlich sind, sind alle pünktlich. Wenn niemand pünktlich ist, nervt Pünktlichkeit. Also: Die beiden Länder kann man gar nicht miteinander vergleichen», sagt er. Und deshalb stört es ihn auch, wenn er von Kamerun erzählt und die Zuhörer immer gleich vergleichen. Ist das dort gefährlicher als in der Schweiz? Ist es dort chaotischer als in der Schweiz? «Irgendwie bin ich es leid, immer und immer wieder zu erklären, dass das Schreiner sind wie wir, nur mit anderer Ausgangslage. Die gemeinsame Leidenschaft zum Handwerk und zum Holz verbindet uns aber mehr, als alle äusseren Gegebenheiten», sagt er.

Nachhaltiges Engagement

Inzwischen ist das Praktikum längst absolviert. Philipp Schlatter arbeitet im elterlichen Unternehmen wieder mit funktionierenden Maschinen und bestens ausgebildeten und pünktlichen Mitarbeitenden. Ressourcen sind vorhanden. Es wird geplant, gerechnet, verdient, investiert. Eigentlich könnte er die Zeit in Afrika jetzt einfach als schöne Erinnerung abhaken. Er könnte sich zurücklehnen und von den schönen Sonnenuntergängen träumen. Oder er könnte sich die Fotos von den farbenfrohen Massivhölzern Kameruns anschauen. Von leichtem, hellem Ayous, von rötlichem Okoumé oder Sapelli, von Wenge so schwarz wie Pech oder vom technisch hochwertigen Padouk, das ursprünglich rot ist und erst durch das UV-Licht schwarz wird. «Das Thema Nachhaltigkeit ist jetzt in aller Munde. Meistens meint man damit Materialien. Aber auch Beziehungen und Verpflichtungen können nachhaltig sein. Deshalb bin ich immer noch im Beirat der Schreinerei. Ich möchte erleben, dass irgendwann die Schreiner in Kamerun ähnliche Voraussetzungen haben wie ihre Schweizer Berufskollegen», sagt er. Ob das nicht noch viele Jahre brauche, oder am Ende gar nicht möglich sei? Philipp Schlatter lacht und sagt: «Joseph, der mit das Wasser ins Spital brachte, würde diese Frage zuversichtlich mit ‹Gib mir Geduld. Aber schnell!› beantworten.»

Sammelaktion

Schreinermaterial gesucht

Im Moment füllt Philipp Schlatter zusammen mit Peter Keller, einem Kollegen aus dem Beirat, einen Schiffs-container mit Schreinermaterial für die Ausbildungsstätte in Yaoundé. Gesucht werden stationäre Maschinen, Handmaschinen, Werkzeug, Beschläge – einfach alles, was die kamerunischen Berufskollegen in ihren Schreinereien gebrauchen können.

Kontakt: Peter Keller, Bantigerstrasse 18, 3052 Zollikofen, Telefon 079 622 06 18

schreinerbildung.kamerun[at]gmail[dot]com

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 24. November 2022 / Ausgabe 47/2022

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