Von der Realität eingeholt

Ein Angestelltervon Divario mit Chargen von Eichenkanteln beim Verleimständer. Bild: PD

Ukraine.  Seit 17 Jahren stellt die Firma Huber Fenster aus Herisau in einer Tochterfirma in der Ukraine Fensterkanteln her. Doch der Angriff Russlands auf seinen westlichen Nachbarn bedroht nun eine eindrückliche Erfolgsgeschichte.

Dabei lief alles so gut. Vor drei Jahren erst konnte man das ungenutzte Grundstück anmieten und darauf eine neue, moderne Fabrikation aufbauen. Auf Luftaufnahmen des Werkes glänzen Photovoltaikzellen. Es macht alles einen aufgeräumten, wohlgeordneten Eindruck. Doch über diese Ordnung im Werk für Fensterkanteln in Iwaniw, südwestlich von Kiew, brach am 24. Februar der Krieg herein, wie über die ganze Ukraine. «Während zweier Wochen lief vorerst gar nichts mehr», sagt Martin Huber, Seniorchef und Verwaltungsratspräsident der Huber Fenster AG in Herisau AR (kleines Bild). Divario heisst die ukrainische Tochterfirma von Huber Fenster, spezialisiert auf die Herstellung von Fensterkanteln aus Eiche. Der Rohstoff dazu wächst in den Wäldern der Region. Aktuell läuft die Produktion zwar wieder zu etwa 80 Prozent, doch der Krieg gefährdet nicht nur eine erfolgreiche, langjährige, wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern er versetzt auch unzählige Menschen in Angst, Not und Schrecken. «Das bereitet uns doch richtig Bauchweh», sagt Martin Huber.

Frauen und Kinder finden Zuflucht

Um die Not der Betroffenen zu lindern, hat die Familie Huber Anfang März einen Hilfsverein gegründet und – was eher unüblich ist – im Handelsregister eintragen lassen. Wie Huber berichtet, ging es in der ersten Phase darum, geflüchtete Frauen aus der Region in die Schweiz zu holen und unterzubringen. Mehr als 40 Frauen mit Kindern hat der Verein als Erstes aufgenommen. «Wir haben Unterkünfte organisiert, sorgen für Versicherung und Verpflegung und haben einen Deutschkurs organisiert», sagt Huber. Eine Buchhalterin konnte bald wieder online von Herisau aus für Divario tätig sein. Weitere Personen können nach dem Okay des Kantons Teilzeit für Huber Fenster arbeiten.

Doch nun steht die Hilfe vor Ort im Zentrum des Engagements des Vereins. Die Lastwagen liefern wieder Eichenkanteln aus der Ukraine ins Appenzellerland. Die Werkstücke finden beispielsweise für die grossformatigen, verglasten Türen Verwendung, die Huber derzeit für den Zürcher Hauptbahnhof nach historischen Vorlagen herstellt. Heimwärts fahren die Lkw dann mit Hilfsgütern aller Art. «Zuerst waren es vor allem Kleider. Doch die Menschen dort benötigen buchstäblich alles, denn Kriegsvertriebene haben nichts mehr», sagt Huber.

Rollstühle, Gehhilfen, Matratzen, haltbare Lebensmittel, Decken, Batterien, Wasser und vieles mehr nahmen und nehmen die Lastwagen auf ihrer Rückreise in die Ukraine mit. Sogar mit zwei Notstromaggregaten konnte man helfen, als im Verwaltungstrakt und den Unterkünften des KKW Tschernobyl der Strom ausfiel. Derzeit versuche er verzweifelt, chirurgischen Faden aufzutreiben. «Aber Sie glauben nicht, wie schwierig das in der Schweiz ist!» Huber schüttelt den Kopf.

Das Stichwort «Eiche» lässt aufhorchen

Was der Krieg nun alles mit Gewalt infrage stellt, hat um die Jahrtausendwende in Moskau begonnen. Schon Mitte der 1990er-Jahre war Huber Fenster in Russland aktiv, mit Fensterproduktion und im Handel mit Beschlägen. Das Geschäft dort sei gut gelaufen. Um sich aber wieder vermehrt um das Kerngeschäft in Herisau zu kümmern, beschloss Huber, die Betriebe in Russland zu verkaufen. «Da kam ein junger Mitarbeiter auf mich zu, und fragte mich, ob ich ihn nicht weiter beschäftigen könne. Er stamme aus der Ukraine und möchte dort etwas Eigenes aufbauen», berichtet Huber. Er habe daraufhin den jungen Mann gefragt, was die Ukraine denn zu bieten habe. «Da antwortete der Mann: Eichen!» Und bei Martin Huber hat es «klick» gemacht. Der junge Mann heisst Sergej und ist mittlerweile in den Vierzigern und Teilhaber der Kantelnfabrik Divario. Die Anfänge waren harzig. Mehrmals musste die Firma einen neuen Standort suchen, hatte mit der Korruption zu kämpfen und den allgemeinen Unsicherheiten im noch jungen Staat. Zunächst produzierte Divario ausschliesslich für das Mutterhaus in Herisau, doch mittlerweile beliefert das Unternehmen auch Drittabnehmer, etwa in Deutschland. Der Markt ist da, und Eiche ist gesucht.

Hunderttausende von neuen Eichen

Jährlich werden in der Gegend um den Oblast-Hauptort Winnyzja vom staatlichen Forst rund 450 000 Eichen gepflanzt. Einerseits, um die genutzten Bestände zu remontieren, andererseits um den Waldanteil im Land von derzeit 15 Prozent auf 16,5 Prozent zu erhöhen, wozu der ukrainische Präsident aufgerufen hat. «In den Mastjahren, wenn die Eichen besonders viele Eicheln produzieren, sammelt das Forstpersonal in den Wäldern die Früchte. Diese werden dann in einem aufwendigen Verfahren zu Setzlingen herangezogen», sagt Huber.

Die Kriegswirren haben die Forstverwaltung und die Bevölkerung nicht davon abgehalten, auch in diesem Frühjahr den traditionellen Forsttag abzuhalten und 12 000 bis 15 000 Jungbäume auszupflanzen. Auch die Belegschaft von Divario beteiligt sich jährlich an der Aktion. Nicht umsonst heisst der Slogan der Firma «Vom Setzling bis zur Kantel». Der Neubau von Divario vor drei Jahren steht für Aufschwung und Prosperität in Iwaniw. Der Betrieb ist ein wichtiger Arbeitgeber. «Und punkto Korruption hat sich manches gebessert», sagt Huber. Bereits denkt Huber an den kommenden Herbst und den Winter, wo möglicherweise Millionen ohne Obdach sein werden. Er hat konkrete Vorstellungen, was für die Flüchtlinge nun getan werden könnte. Doch er sagt: «Was immer wir tun, es ist nur ein Tropfen auf einen heissen Stein.»

www.divario-ua.com

Gemeinnütziger Verein

Unterstützung der Vertriebenen

Das UNHCR, Uno-Hochkommisariat für Flüchtlinge, schätzte die Zahl der vor dem Krieg in der Ukraine ins Ausland Geflohenen Anfang Mai auf 5,6 Millionen Menschen. Dazu kommen noch knapp 8 Millionen sogenannte Binnen-Flüchtlinge, die im Land selbst auf der Flucht sind – dies bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 42 Millionen Menschen. Um Kriegsvertriebenen aus der Region Winnyzja zu helfen, wo sich das Fensterkantel-Werk befindet, hat die Familie Huber einen Unterstützungsverein gegründet. Der Verein kümmert sich einerseits um Flüchtlinge in der Schweiz, leistet aber auch Hilfe vor Ort mit Geld und Material. Wer den Verein unterstützen möchte, findet unter der nachfolgenden Internetadresse weitere Informationen und eine Kontonummer.

sammelaktion.huberfenster.ch

Stefan Hilzinger, hil

Veröffentlichung: 12. Mai 2022 / Ausgabe 19/2022

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