Das Spiel von Verhältnis und Wirkung

Subtile Spannung dank unterschiedlicher Dicke von Seite und Boden. Dekor blattvergoldet. Bild: Andreas Brinkmann

Proportionen.  Bei der Planung von Schreinerarbeiten wird man zwangsläufig mit Fragen der Gestaltung konfrontiert und muss eine dem Objekt entsprechende Harmonie finden, die dessen visuelle Wirkung ausmacht. Geeignete Ausgangspunkte dürften bei dieser Suche hilfreich sein.

Ein normal gebräuchlicher Bleistift hat einen gleichmässigen, im Querschnitt sechseckigen Holzkörper, der rund 180 mm lang ist und der eine ca. 2 mm dicke Graphitmine enthält. Mit den sechs Kanten und Flächen lässt sich das Schreibwerkzeug sicher halten und vor allem gezielt einsetzen.

Wer nun entlang eines Lineals einen gleichmässigen Strich ziehen will, muss den Bleistift konstant schräg auf das Papier drücken und gleichzeitig leicht drehen. Durch die Drehung nutzt sich die Mine rundherum gleichmässig ab – wird sozusagen nachgespitzt – und die Strichbreite bleibt gleich.

Die Form unterstützt die Funktion

Bei Stiften mit kreisrundem Querschnitt neigen die Finger dazu, beim Drehen abzurutschen. Stifte, die ein sphärisches Dreieck als Querschnitt haben, liegen sehr angenehm in der Hand, was bei längerem Schreiben wichtig ist. Sie lassen aber die Drehung beim Zeichnen kaum zu. Kleine Kinder, die erst lernen müssen, einen Stift zu greifen und zu bedienen, können das mit der Dreieckform viel sicherer. Die sechseckige und die dreieckige Form begünstigen somit in starkem Masse ihre jeweiligen Funktionen.

Mit guten Proportionen wohlfühlen

Bleistifte, die dicke Minen enthalten, sind aussen dicker als solche mit dünnen Minen. Das müsste nicht so sein, aber es würde sich sonst nicht richtig anfühlen. Diese Proportion – das Massverhältnis zueinander – wird automatisch von jedem vorausgesetzt und ist somit auch eine Bemessungsgrundlage, wenn so ein Werkzeug in seiner Tauglichkeit bewertet wird.

Mit der Proportion verhält es sich also auch wie mit der Form, die eine Funktion begünstigen oder einschränken kann. Kommt dann bei der Gestaltung noch die Ästhetik, also Schönheit und Harmonie eines Produktes, dazu, darf auch der Faktor Zeitgeist nicht vergessen werden.

Als schön werden etwa Dinge empfunden, die eine Grundlage in der herrschenden Kultur, in den Gewohnheiten und im Streben nach Neuem haben. Das Spielen mit Proportionen kann visuelle Spannungen auf- oder auch abbauen.

Der Goldene Schnitt

Schon in der Antike wurde versucht, Proportionen – also Grössenverhältnisse zueinander – zu definieren, die immer als harmonisch und schön wahrgenommen werden und als Grundlage in der Architektur, der Produktgestaltung und der Kunst dienen. Gefunden wurde schon damals der Goldene Schnitt, mit dem Verhältnis 1 : 1,618. Diese Zahl wird auch mit dem griechischen Buchstaben Phi bezeichnet. Die Proportion findet sich in ganz vielen organischen Formen in der Natur wieder und ist in unserem Formempfinden sowie den Grössenverhältnissen dieser Formen zueinander tief verankert. Ganz praktisch umgesetzt bedeutet das, dass ein Rechteck mit Kantenlängen im Verhältnis 8 : 5 (= 1,6) dem Goldenen Schnitt entspricht.

Das Proportionssystem «Modulor»

Der schweizerisch-französische Architekt, Architekturtheoretiker, Stadtplaner, Maler, Bildhauer und Designer Le Corbusier hat sich sein Leben lang mit Idealmassen und Proportionssystemen auseinandergesetzt. Geführt hat diese Suche zum «Modulor», der den menschlichen Massstab mit dem Goldenen Schnitt verbindet.

Das Proportionssystem mit einer sechs Fuss (1823 mm) grossen Figur half Le Corbusier bei der Realisierung spektakulärer Entwürfe, wie dem Zürcher Pavillon an der Höschgasse 8. Dieser wurde nach dem System «Modulor» proportioniert. In diesem Pavillon findet noch bis zum letzten Sonntag im November eine Ausstellung über dieses Proportionssystem statt, welche das Thema anschaulich vertieft.

Blickwinkel und Wirkung

Der Besuch eines Gebäudes, wie des «Pavillons Le Corbusier», kann auch dabei helfen, die Wirkung von Proportionen zu verstehen. Was auf Distanz wie zweidimensional und perfekt eingeteilt aussieht, verändert sich bei näherem Hinkommen. Durch das sich verändernde Verhältnis der eigenen Augenhöhe zur Grösse des Objekts und des Blickwinkels, der zu einer Verzerrung des Bildes führt, kann die davor wahrgenommene Harmonie der Proportionen gestört sein.

Der eigene Blickwinkel stört auch die optische Wirkung bei alltäglichen, scheinbar banalen Dingen. Wenn bei einer schmalen Küchenschublade der Griff in der Frontmitte befestigt sein soll, muss er 6 mm weiter oben angebracht werden, damit er optisch in der Mitte sitzt. Durch den Blick von oben herab erscheint die untere Fronthälfte kleiner.

Stuhlbeine oder Bettfüsse, die rechtwinklig zur vorderen Traverse oder zum Fusshaupt stehen, erscheinen V-förmig unten zusammenlaufend. Werden sie nur schon unten 2 Grad schräg nach aussen gesetzt, wirken sie gerade. Interessant ist, dass das für normal hohe Tischbeine nicht zutrifft. Die Höhe der Tischplatte zeigt da Wirkung.

Optischer Spannungsaufbau

Gerade bei Tischen kann man wunderbar die spannungsaufbauende Wirkung von Proportionen sehen. Eine sichtbar dünne Tischplatte kombiniert mit dicken Beinen wirkt völlig anders als umgekehrt. Ist die Querschnittkantenlänge eines Tischbeines zur Dicke der Tischplatte im Verhältnis Goldener Schnitt, wirkt das zwar harmonisch, aber vielleicht auch etwas langweilig. Als Ausgangssituation ist dieses Verhältnis aber durchaus hilfreich.

Das Gleiche gilt auch für Korpus-Seiten, -Böden und -Deckel. Wie bei Gebäudefassaden zeigen Unterschiede in der Tiefe auch bei Korpussen besondere Wirkungen. Beispielsweise können vertikale Friese, die auch eine Grifffunktion übernehmen und deshalb stark vorstehend sind, schmaler sein als solche, die wenig vorstehen. Da bei beiden Friesen vor allem die plastische Wirkung gesehen wird, erscheinen sie trotz der Differenz als gleich breit.

Harmonie des dekorativen Ausgleichs

Die proportionale Gestaltung ist bei Türen insofern etwas schwierig, weil sich die funktional erforderliche Drückerhöhe ergibt und damit das Teilungsverhältnis in der Türansicht ungünstig ausfallen kann. Mit gut gewählten Randabständen, beispielsweise bei Glasausschnitten, der unterschiedlichen Breite von sichtbaren Friesen oder der Höhe von Wetterschenkeln kann eine gestalterische Dominanz aufgebaut werden, welche den Fokus von Funktionselementen wie dem Drücker etwas wegnimmt.

Aussentüren sind ein Teil der Hausfassaden und sollten somit idealerweise in einem stimmigen optischen Verhältnis zu diesen stehen. Das betrifft das ganze Türelement mit Rahmen, allfälliger Umrandung, Stehflügeln, Glasausschnitten und allen Verzierungen. Eine wirklich harmonische Wirkung entsteht dann, wenn Türen, Fenster und die restliche Fassade aufeinander abgestimmt werden – ein Anliegen, welches der Architekt Le Corbusier mit seinem Proportionssystem «Modulor» erfolgreich angegangen ist.

www.pavillon-le-corbusier.ch

Andreas Brinkmann

Veröffentlichung: 11. Mai 2023 / Ausgabe 19/2023

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