Ein Möbel mit vielen Seiten

Auch früher habensich Schreiner schon Gedanken über die Präsentation von Büchern gemacht, nicht nur 1767 für die Stiftsbibliothek St. Gallen. Bild: Stiftsbibliothek St.Gallen

Bibliotheksmöbel.  Buch und Regal sind seit Anbeginn ein ungleiches Paar. Untrennbar verbunden sind mit der Planung eines Bibliotheksmöbels auch die Klärung von Fragen nach der statischen Belastbarkeit der gewählten Konstruktion sowie der Materialisierung.

Man kann ja vieles kompliziert machen und alles bis ins kleinste Detail analysieren. Aber ein Bücherregal? Spätestens nach einem Besuch in der Stiftsbibliothek St. Gallen wird klar: Das Möbel und das gesammelte Wissen der Menschheit gehen in der ältesten Schweizer Bibliothek eine besondere Verbindung ein. Sie wurden gewissermassen in barocker Pracht füreinander geschaffen. Schon 1767 haben die Planer kein Detail ausser Acht gelassen oder gar dem Zufall überlassen. Zielgerichtet nachgefragt, gehört das Bücherregal auch regelmässig zu den Lieblingsstücken in den eigenen vier Wänden der Leute. Zugegeben: Voraussetzung dafür ist, dass es sich bei den Befragten um lesefreudige Zeitgenossen handelt, welche das Buch in Papierform dem digitalen Screen vorziehen.

Die Last des Wissens

Ist das Bücherregal gross, hoch und breit, vielleicht wandfüllend – dann trägt es schwer, auch ganz praktisch. Ein Roman im Taschenbuchformat kann es mit 400 Seiten auf ein Pfund bringen, ein Kochbuch schnell auf das Doppelte. Und rund 450 mm hochgestapelte Schreinerzeitungen sind ein Schwergewicht. An der Messe Holz in Basel sollten die Besucher einen solchen Stapel schätzen und richtig waren genau 22,6 kg. Da stellt sich schnell die Frage nach einem sinnvollen Achsmass zwischen den Seiten und damit der Spannweite von Tablaren, sollen solche Gewichte ins Regal. Oft sind Tablare gut so breit wie zwei solcher Schreinerzeitungsstapel. Das sind dann über 45 Kilogramm Last auf 900 mm Spannweite. Eine Standardplatte mit 19 mm Dicke, gleich welcher Art, hält das nicht aus.

Und was ist schon unschöner als ein sich unter der Last von Büchern durchbiegendes Tablar. Leider sieht man das relativ häufig, weil Laien natürlich Bücher ins Regal stellen und Produzenten ihr Regal nicht mit «für Bücher nicht geeignet» anschreiben. Das wäre ja auch wieder falsch. Die Frage ist nur, wie viele Bücher die jeweilige Konstruktion aushält. In der Möbelindustrie schert man sich darum wenig. Schätzungsweise alle fünf Sekunden soll jemand irgendwo auf der Welt ein Billy-Regal kaufen, lässt Ikea zu ihrem Bücherregal verlautbaren. Etwas länger dauert es, bis die Konstruktion den Büchern nachgibt. Über kurz oder lang obsiegt die Schwerkraft aber und die Böden von Billy biegen sich. Die Erfinder des Bücherregals haben übrigens im Laufe der Zeit die Breite verringert. Urspünglich mass das Regal 900 mm. Heute sind es nur noch 800 mm. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, aber die Frage danach, wie eine offensichtliche Fehlkonstruktion gleich über 40 Mio. Mal verkauft werden konnte, drängt sich fast auf.

Haltbar durch Schreinerwissen

Beim Bibliotheksregal aus der Schreinerei sind fehlerhafte Dimensionierungen freilich seltener. Aber woher weiss man, was geht und was nicht und welches Material bei welcher Spannweite wie dimensioniert sein muss, damit die Konstruktion der Schwerkraft unter der Last der Bücher auch dauerhaft standhält? «Wir machen je nach Situation schon mal einen Test, indem wir eine Konstruktion mit ein paar Gewichten belasten und schauen, ob es funktioniert», erklärt Christoph Grellinger von der Rolf Kipfer AG in Grellingen BL. Bei der richtigen Konstruktion gehe es zuallererst um Erfahrungswerte und das Wissen aus der guten fachlichen Praxis. Bibliotheksmöbel hat die Schreinerei Kipfer schon öfter geplant und umgesetzt. Zuletzt ein Prachtexemplar von einem Regal mit 3668 mm Breite und und 3455 mm Höhe.

Holz trägt besser

Bei der Materialisierung des wandfüllenden Regales im privaten Auftrag hat sich Grellinger für 25 mm dicke Stäbchenplatten entschieden. Und das aus gutem Grund, wie auch die Materialkennwerte belegen. Allen voran ist die Biegefestigkeit dabei von Belang. Vergleicht man die Werte der verschiedenen Materialien, sollte eine identische Dimension, sprich Plattenstärke zugrunde liegen. Denn das Dickenmass der Platte fliesst bei der Berechnung des Kennwertes aus dem Versuchsaufbau mit ein. Vereinfacht könnte man sagen, die Plattenstärke werde ins Verhältnis zur Belastung und der ermittelten Durchbiegung gesetzt.

Das führt auf den ersten Blick zu einem Kuriosum, nämlich dass bei manchen Werkstoffen mit zunehmender Dicke die Kennwerte für die Biegefestigkeit abnehmen können. Bei Spanplatten ist dies so. Da die Spanplatte ein typisches Rohdichteprofil mit groben Spänen im mittleren Bereich und feineren Spänen am Rande aufweist, nimmt mit zunehmender Stärke der relative Anteil der groben Späne zu und damit einher geht eine geringere Biegefestigkeit unter Berücksichtigung der Plattenstärke.

Beim Vollholz ist dies anders, da es durchgehend den gleichen Aufbau aufweist. Je stärker das Holz, desto höher die Biegefestigkeit. Aufgrund dieser Zusammenhänge bietet die Angabe der Biegefestigkeit eine Orientierung. Wichtig ist jedoch das Erfahrungswissen des Handwerks. Der umgangssprachliche Begriff dazu, wann etwas «stabil» ist, hat dabei seine Berechtigung.

Stabile Stäbchenplatte

Eine 25-mm-Stäbchenplatte ist ein stabiles Tablar für Bücher, eine 25-mm-Spanplatte dagegen nicht. Eine Stäbchenplatte mit 19 und 22 mm Dicke mit MDF-Decklage von Moralt bringt es auf 50 N/mm2 Biegefestigkeit. MDF, Span- und OSB-Platten weisen weitaus geringere Werte auf. Lediglich harte Faserplatten liegen spürbar höher, während Sperrhölzer dazwischen rangieren. Massivholz in Schreinerqualität wiederum liegt deutlich über den Holzwerkstoffen, nur Stäbchenplatten mit einer Deckschicht aus HDF kommen an die Werte guten Nadelholzes heran. Auch eine Spanplatte kann so ertüchtigt werden. So fertigt Swiss Krono mit PFB eine biegesteife Verbundplatte mit Spanmittellage, deren Werte mit 35 N/mm2 bei 19 mm Stärke mehr als das doppelte einer gewöhnlichen Spanplatte leisten. Der Grund findet sich an den Rändern. Die besonders beanspruchten Randzonen bei der Durchbiegung im oberen Druck- und unteren Zugbereich sind bei der PFB-Platte mit einem HDF-Deck verstärkt, was einen deutlichen Effekt auf die Biegesteifigkeit hat.

Konstruktiv liegt viel drin

Wenn das Material für Bücherregale nicht ausreichend tragfähig ist, kann man dem einfach mit kleineren Spannweiten begegnen. Eine andere Variante, die Tragfähigkeit zu erhöhen, liegt in der Konstruktion, genauer gesagt in der Ausbildung der Rückwand. Wird diese nicht nur als statische Scheibe in geringer Stärke ausgebildet, sondern in gleichem oder ähnlich steifem Material wie die Tablare, entstehen stabile Winkelkonstruktionen. Das Tablar kragt gewissermassen aus, sodass das geringe Tiefenmass der Konstruktion zur überspannten Strecke mit einseitigem Auflager wird. Voraussetzung ist dann allerdings, dass die meist richtungsabhängigen Holzwerkstoffe in Querrichtung eine geeignete Biegefestigkeit aufweisen.

Ist dies nicht oder nur bedingt der Fall, lassen sich durch das Einfügen von Eckkonstruktionen enorm stabile Konstruktionen umsetzen. Eine solche im Regal versetzt angeordnete Ecke, bestehend aus Rückwand, Tablar und Seite, hat auch Grellinger genutzt, um bei dem Bibliotheksregal aus tragfähiger 25-mm-Stäbchenplatte auch Spannweiten von bis zu 1448 mm zu ermöglichen. «Wir haben diese um 33 mm vorgesetzt, weil dahinter Verkabelungen verlaufen. So konnten die Kabel unsichtbar geführt werden, ohne eine durchgängige Rückwand verbauen zu müssen. Alle Knotenpunkte sind mit Clamex-Verbindern ausgeführt, verleimt wurde nicht.»

Hoch hinauf zur Erkenntnis

Aufgrund der Höhe des Regals von über drei Metern war eine Leiter zum Erreichen der höheren Ebenen nötig. Anstelle einer Führung in Form einer Reeling und der dann im Raum stehenden schiebbaren Leiter entschied man sich für eine Leiter zum Anstellen, die bei Nichtgebrauch neben dem Regal an der Wand hängt. «Die Leiter wird mittels einer Leiste einfach auf einer Etage der Böden aufgelegt», sagt Grellinger. Diese Lösung war nicht nur einfach, sondern auch der Sache dienlich. Denn eine verschiebbare Leiter, eingehängt in einer Führung, braucht Platz, der kaum vorhanden war.

Eine rollbare Leiter wie sie von Häfele oder Fonsegrive in der Schweiz angeboten wird, stellt auch einen gewissen Vorbau dar, der etwas Platz braucht. Eine Bibliothek ist und bleibt eben doch etwas Grosses. Für manche vielleicht sogar eine «Heilstätte der Seele». So zu lesen über dem Eingang der Stiftsbibliothek.

www.kipfer.agwww.swisskrono.comwww.haefele.chwww.fonsegrive.ch

Christian Härtel

Veröffentlichung: 03. November 2022 / Ausgabe 44/2022

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