Für den glasklaren Durchblick

Raumhohe Vergla-sungen liegen im Trend und stellen den Fensterbauer vor neue Herausforderungen. Bild: Africa Studio (Shutterstock)

Glas am Bau.  Seit der Einführung der überarbeiteten Sigab-Richtlinie 002 «Sicherheit mit Glas – Anforderungen an Glasbauteile» werden die Sigab-Glasexperten von Ratsuchenden kontaktiert. Das ist Anlass genug, anhand konkreter Beispiele etwas mehr Klarheit schaffen.

Immer wieder passieren Personenunfälle mit schweren Schnittwunden, die durch grob brechendes Glas wie Float-, Guss- oder Drahtglas verursacht werden. Die 2017 neu überarbeitete Sigab-Richtlinie 002 (SR 002) bietet einen klaren Rahmen für mehr Sicherheit mit Glas am Bau und hat mit Stichtag 1. Januar 2018 die Sigab-Dokumentation «Sicherheit mit Glas» aus dem Jahr 1999 abgelöst. Die Einführung der überarbeiteten Richtlinie sorgte für einigen Wirbel und teilweise auch für Unsicherheit in der Baubranche. Die Sigab-Glasexperten werden täglich mehrmals um Rat angefragt. Einige Fragen werden hier anhand von Beispielen ausführlich beantwortet.

Unerwartete Mehrkosten

Frage 1: Ein privater Bauherr eines Einfamilienhauses in der Romandie möchte wissen, ob die SR 002 rechtlich verbindlich sei und ob er dem kürzlich erhaltenen Hinweis seines Fensterbauers folgen und Sicherheitsgläser einbauen müsse. Und falls ja, wer die Mehrkosten von 8000 Franken tragen müsse. Die Baubewilligung wurde 2017 erteilt. Die Wohngemeinde argumentiert, dass die SR 002 erst seit dem 1. Januar 2018 gelte und davor rechtlich keine Sicherheitsgläser gefordert gewesen seien. Es sei somit alles korrekt abgelaufen, und er müsse die Zusatzkosten selber tragen. Der Bauherr fühlt sich schlecht beraten und hilflos. Als Vater von drei kleinen Kindern möchte er für sein Einfamilienhaus den bestmöglichen Sicherheitsstandard, ärgert sich aber über die unerwarteten Mehrkosten und darüber, dass er von den Fachleuten nicht von Anfang an umfassend über Sicherheitsgläser und die gesetzlichen Grundlagen und Empfehlungen informiert worden ist.

Richtlinie ist eine Empfehlung

Antwort 1: Die SR 002 ist keine Norm im Sinne von Art. 2 Ziff. 12 des Bauproduktegesetzes (BauPG), wie dies beispielsweise die Normen des SIA sind. Sie ist jedoch eine technische Spezifikation im Sinne von Art. 2 Ziff. 10 BauPG und widerspiegelt den Stand der Technik und grösstenteils auch der anerkannten Regeln der Baukunde. Die SR 002 ist eine Richtlinie mit empfehlendem Charakter. Es kommt jedoch vor, dass Gemeinden die Sicherheitsempfehlungen des Sigab oder der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) als Auflage in die Baubewilligungen aufnehmen, womit die technischen Spezifikationen der SR 002 umzusetzen sind. Ebenso kommt es vor, dass die Publikationen von Sigab und BFU bei Gutachten oder Gerichtsfällen als Entscheidungsgrundlagen beigezogen werden.

Die Sicherheitsanforderungen in der SR 002 bestehen seit bald 20 Jahren in der Branche und basieren sowohl auf gesetzlichen als auch auf normativen Grundlagen. Die SR 002 präzisiert bestehende Vorschriften. Der Grundsatz, dass verletzungshemmende Gläser einzubauen sind, wo eine Verletzungsgefahr besteht, ist weder neu noch vom Sigab aufgestellt worden.

In Bezug auf Planung, Bewilligung und Ausführung von Bauvorhaben spielt der Stichtag der überarbeiteten Sicherheitsrichtlinie deshalb eine untergeordnete Rolle, und es gibt dementsprechend auch keine Übergangsphase.

Es gehört zur Sorgfaltspflicht, gut informiert zu sein über den aktuellen Stand der Technik und die anerkannten Regeln der Baukunde. Dazu zählt auch die Hinweispflicht gegenüber der Kundschaft. Der Fensterbauer ist dieser Hinweispflicht nachgekommen, wenn auch eher spät.

Schlicht falsch hingegen ist der Standpunkt der Wohngemeinde des Bauherrn. Denn: Ein Bauherr darf davon ausgehen, dass Architekten, Planerinnen, Handwerker und Behörden über die aktuell geltenden Anforderungen und Empfehlungen in der Branche informiert sind.

Haftbarkeit und Verantwortung

Frage 2: Eine Mitarbeiterin einer Glaserei im Mittelland erkundigt sich beim Sigab, inwieweit die Firma haftbar ist, wenn das Unternehmen einem Kunden für eine Glastür Float- statt Sicherheitsglas liefert. Der Kunde wurde vorgängig von den Mitarbeitenden der Glaserei auf die Sicherheitsanforderungen gemäss SR 002 hingewiesen. Der Kunde wünscht trotzdem das kostengünstigere Floatglas. Die Tür und das Glas will er selber einbauen. Der Glasproduzent ist besorgt, ob er überhaupt liefern darf.

Entscheidung liegt beim Bauherrn

Antwort 2: Grundsätzlich liegt die Entscheidung, ob das geforderte und meistens teurere Sicherheitsglas eingebaut wird, allein bei der Bauherrschaft – ausser es bestehen Auflagen seitens der Behörden.

Bei einem bewussten Verzicht auf den Einbau von Sicherheitsglas empfiehlt es sich, diese Entscheidung in den Bauwerksakten oder in einer Nutzungsvereinbarung zu dokumentieren. Gemäss Norm SIA 118 hat der Bauherr die Schutzanforderungen zu definieren, und er trägt auch die Verantwortung, dass Glasaufbauten entsprechend den verlangten Anforderungen und Montagemöglichkeiten richtig ausgeschrieben werden. In der Regel ist der Planer für eine korrekte Ausschreibung und der Werkvertragsnehmer für die Wahrnehmung der Hinweispflicht verantwortlich.

Der Glaslieferant kann nur verantwortlich gemacht werden, wenn er mit der Planung von Glasaufbauten beauftragt wurde.

Die 1-Meter-Regel

Die von BFU und Sigab schon länger empfohlene Handhabung von Sicherheitsglas wurde in der SR 002 durch die sogenannte 1-Meter-Regel aufgenommen.

Der gedankliche Meterriss zur Anwendung von Sicherheitsglas ist eine markante Vereinfachung für alle am Bau Beteiligten. In der SR 002 heisst es dazu: Für Verglasungen mit Glas unterhalb der Mindesthöhe von einem Meter ab begehbarer Fläche ist aus Gründen des Personenschutzes angriffsseitig Sicherheitsglas anzuordnen. Je nach Zugänglichkeit ist dies beidseitig sicherzustellen, so beispielsweise bei EG-, Balkon- oder Terrassenverglasungen.

Frage 3: Eine Architektin aus der Innerschweiz stellte die Frage, ab wo genau dieser Meter für die 1-Meter-Regel gemessen werde. Und ob diese auch gelte, wenn ein breiter Sims eingeplant sei.

Antwort 3: Bei der 1-Meter-Regel zu Sicherheitsglas zählt das Glaslicht beziehungsweise die Oberkante der Glasfalzleiste. Die Einbausituation mit breitem Sims ist in der Richtlinie nicht geregelt – es sind die beteiligten Personen gefordert, in Abstimmung mit der Nutzung einen Entscheid zu treffen.

Farbdifferenzen sind möglich

Frage 4: Ein Bauverwalter einer Nordwestschweizer Gemeinde ist sich beim Fensterersatz seines Privathauses mit dem beauftragten Fensterbauer in einigen Punkten nicht einig und wendet sich deshalb ans Sigab. Die geplanten raumhohen Fenster sind im Treppenhaus nicht alle zugänglich, weil sie sich teilweise im Luftraum befinden oder ein Geländer vorgesehen ist. Der Mann fragt sich nun, ob in diesen Situationen ebenfalls Sicherheitsgläser nötig sind.

Antwort 4: Theoretisch ist es richtig, dass in nicht zugänglichen Einbausituationen das Sicherheitsglas «eingespart» werden könnte. In der Praxis zeigt es sich jedoch, dass dies nicht sinnvoll ist. Durch unterschiedliche Isolierglasaufbauten in derselben Fassade oder Stockwerkebene können Farbdifferenzen sichtbar werden.

Mehrwert rechtfertigt den Preis

Es ist richtig, dass Sicherheitsgläser kostspieliger sind als Floatglas. Sicherheitsglas bietet jedoch nicht nur den bestmöglichen Personen- und Verletzungsschutz, sondern je nach Glasaufbau auch einen besseren Widerstand gegen Ballwurf, Einbruch oder Schall. Diese zusätzlichen Mehrwerte von Sicherheitsglas sind ihren Preis wert.

Der Einbau von Sicherheitsgläsern sollte also bereits in der Planungs- und Projektierungsphase berücksichtigt, besprochen und entsprechend budgetiert werden.

Handwerker als Planer

Werden Glasprodukte bei bestehenden Bauteilen ersetzt, so muss das neue Produkt dem aktuellen Stand der Technik und den anerkannten Regeln der Baukunde entsprechen. Zudem ist die bestehende Konstruktion inklusive Befestigung zu überprüfen und – falls erforderlich – anzupassen. Bei Baudenkmälern sind Ausnahmen nach sorgfältiger Risikoabwägung denkbar. Gerade bei Ersatzverglasungen ist meist der Handwerker für die Planung zuständig. Als Planende von Fensterersatz-Projekten müssen somit auch die Fensterbauer alle gesetzlichen und empfohlenen Planungsgrundlagen sowie die spezifischen Feinheiten des Baustoffs Glas kennen. Die Komplexität dieses umfangreichen zusätzlichen Fachwissens wird jedoch oft unterschätzt und kaum wahrgenommen. In vielen Fällen empfiehlt es sich deshalb, von Anfang an einen vertrauenswürdigen Glasbetrieb oder Isolierglashersteller einzubeziehen.

Chance wahrnehmen

Viele Situationen sind durch die SR 002 nun klar geregelt. Die Richtlinie bietet den Betrieben und der Kundschaft mehr Rechtssicherheit in Bezug auf das Bauproduktegesetz. Zudem liegt das Bewusstsein für mehr Sicherheit absolut im Trend. Sicherheitsglas bietet vor allem Kindern und sturzgefährdeten Seniorinnen und Senioren mehr Sicherheit. Dieser Umstand gibt dem Unternehmer die Chance, seiner Kundschaft einen Mehrwert anzubieten.

Sigab

Weiterführende Informationen

Das Schweizerische Institut für Glas am Bau (Sigab) mit Sitz in Schlieren bei Zürich ging aus dem Verband der Flachglasimporteure hervor. Das Sigab wurde 1980 gegründet. Das Ziel der neutralen Fachstelle ist es, die fachgerechte und sinnvolle Verwendung von Glas am Bau zu fördern. Dafür erstellt das Institut Expertisen und statische Nachweise in Sachen Glas und Glasanwendungen, stellt sein Fachwissen in Publikationen und Fachartikeln zur Verfügung und führt auch Schulungen und Seminare durch. Die wichtigsten Informationen zur SR 002 sind auf einem Flyer zusammengefasst, der in Papierform bestellt oder als PDF-Datei auf der Internetseite heruntergeladen werden kann. Die Sigab-Richtlinie 002 «Sicherheit mit Glas – Anforderungen an Glasbauteile» kann einzeln oder zusammen mit den anderen Sigab-Publikationen im Glasordner ebenfalls über die Internetseite bestellt werden.

www.sigab.ch

bl/ml/rm

Veröffentlichung: 30. August 2018 / Ausgabe 35/2018

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