Geht nicht, gibts eben doch

Bild: Pixabay

Burn-out.  Es gibt Menschen, die bewegen sich unter dem Applaus der Gesellschaft und mit halsbrecherischem Tempo durch den Alltag. Auch Schreinerinnen und Schreiner tun das. Doch manchmal brennen sie an ihrer glühenden Leidenschaft für den Beruf aus.

Kater Karlo bemerkte das drohende Unheil zuerst. Jedenfalls schmiegte sich das Tierchen, so wie er es vorher nie tat, am Dienstagabend, 22. April 2014, an sein Herrchen Heinz Künzi. Dass sich am Tag darauf das Leben der ganzen Familie auf den Kopf stellen wird, ahnte sonst eigentlich niemand. «Eigentlich», denn es war klar, dass das Fass eines Tages überlaufen wird. Man wartete nur auf den Tropfen und hoffte insgeheim, dass er nie fallen werde. Er fiel.

«Ich Burn-out? Blödsinn!»

Am kommenden Tag sass Corinne Künzi mit den drei Kindern am Mittagstisch. Der Vater fehlte. Wie immer. Viel Arbeit. Immer unterwegs. Immer unter Strom. Physisch und psychisch. «Als er anrief, merkte ich gleich, dass da etwas nicht stimmt», erzählt Corinne Künzi. Sie sagte: «Bleib da wo du bist», nahm das Auto und fuhr los. Ihr Mann war schweissüberströmt und völlig verwirrt, als sie ihn vorfand und ins Spital brachte. Dort tippte man zuerst auf Herzinfarkt, dann die Diagnose Burn-out. «Ich Burn-out? Blödsinn! Am dritten Tag im Spital sagte ich, dass es jetzt reiche und ich nach Hause gehe», berichtet er. Heinz Künzi blieb zwei Wochen.

Heinz Künzi hat in Pieterlen BE Schreiner gelernt. «Super Lehre. Im dritten Lehrjahr durfte ich mit dem Lieferwagen eine Küche liefern und montieren, die ich von A bis Z selbst gemacht hatte. Bei der praktischen Abschlussprüfung erreichte ich eine 5,6», erzählt er. Nach der Lehre arbeitete er in Château d’Œx VD, um Französisch zu lernen. In den frühen 90er-Jahren lernte er im Betrieb, mit der CNC-Maschine zu arbeiten und CAD zu zeichnen. «Das war bis dahin in der Schreinerbranche ein Novum.»

Als er nach drei Jahren zurück in die Deutschschweiz wollte, liess man den guten Mann nicht gerne gehen. Man einigte sich auf eine Art Fernbeziehung.

Also packte Heinz Künzi 1993 die «dicke PC-Kiste» ein und arbeitete von da an im Homeoffice von Pieterlen aus. Es folgte eine Weiterbildung und schliesslich die Meisterschule. 2002 gründete der engagierte, junge Schreiner seine Künzi Raum & Design GmbH. Von der Kalkulation über die Avor, von der Projektbetreuung bis zur Nachbearbeitung der Aufträge – Heinz Künzi setzte sich extrem ein. Seine kreative, ruhige, höfliche Art, gepaart mit Fachwissen, Erfahrung und Zuverlässigkeit, kam gut an. Zudem ist Heinz Künzi ein feinfühliger Mensch, einer der redlich versucht, es allen recht zu machen. Das brachte Erfolg, in dessen Verlauf sein ursprünglicher Beruf immer mehr zum Bürojob mutierte. Pläne zeichnen, Besprechungen, Abrechnungen, EDV. «Der Schreiner, der etwas herstellt, war nicht mehr da. Es fehlte mir nicht. Es ist einfach so gewachsen», sagt er. Heinz Künzi ist im Vorstand einer Elterngruppe, im Skiklub, in der aktiven Feuerwehr leistet er bis zu 70 Einsätze pro Jahr. Er spielt beim FC Pieterlen. Dass sein Seelendach in Flammen stand, merkte er nicht.

Surreale Hilflosigkeit und Vorwürfe

Im Anschluss ans Spital kam Heinz Künzi in die Rehaklinik Meiringen zur psychosomatischen Rehabilitation. «Ich fühlte mich wie ein Computer, dem man den Stecker gezogen hat. Mein Bildschirm war schwarz, und ich musste neu anfangen zu programmieren», beschreibt er seinen damaligen Zustand. Wie putze ich die Zähne? Wie geht man über einen Fussgängerstreifen? «Ich konnte zwar laufen, hatte aber die Orientierung verloren und wusste nicht wohin. Es war total surreal», berichtet er. «Wir hatten Panik. Wie wird es weitergehen? Und ich machte mir Vorwürfe. Hatte ich ihm zu viel abgenommen, anstatt ihn zu mehr beruflicher Zurückhaltung zu bewegen?», erzählt seine Frau Corinne. Da intervenierte die Privatklinik in Meiringen und half der Familie über das Gröbste hinweg.

Ein Burn-out trifft die ganze Familie

Das ist nun sieben Jahre her. Heinz Künzi ist wieder zu Hause. «Ich will nicht jammern, aber ich bin auch heute noch nicht so, wie ich es von mir gewohnt bin», sagt er. Aber muss er das überhaupt? Der heute 53-Jährige hat gelernt, achtsam zu sein. Er hört auf die Signale seines Körpers. Immer wenn Kater Karlo ihm auf den Schoss springt, horcht er in sich hinein. Die Freude an der Arbeit hat er noch, aber tagtäglich lotet er neu aus, wie er seinen Tag gestalten muss, damit er auf Dauer erträglich bleibt. «Ich denke, das haben wir gut hingekriegt», sagt er. Wieder «wir». Denn nach so einer Höllenfahrt ist nicht selbstverständlich, dass die Partnerin noch da ist. Auch die Kinder, inzwischen erwachsen, halten zum Vater. Sohn Leandro wollte ursprünglich ein Handwerk erlernen, macht aber jetzt im Spital eine Ausbildung im gesundheitlichen Bereich. «Die Geschichte meines Vaters hat mich wohl geprägt», sagt er und erzählt, dass der Vater jetzt sogar Zeit für einen gemeinsamen Spielabend finde. Und noch etwas freut den Sohn: «Mein Vater schreinert mit mir. Unter seiner Anleitung machte ich einen Stuhl, ein Vogelhäuschen, und auch bei der Veranda durfte ich helfen.» Auch Tochter Chiara hat ein Auge auf den Vater. «Wenn er am Wochenende wieder im Büro ist, sage ich es ihm», sagt sie. Künzis ältester Sohn Cédric machte die Uhrmacherlehre bei Rolex in Biel BE. Die Abschlussfeier fand in jenem Raum statt, für den Heinz Künzi kurz vor dem Burn-out den Innenausbau plante, den er danach aber nie zu Gesicht bekam. «Ich betrat den Raum zum ersten Mal. Er sah toll aus. Das freute mich riesig», sagt er.

Das Ersparte war rasch weg

Gar nicht gut kommen in Heinz Künzis Burn-out-Erzählung die Versicherungen weg. «Das ging schleppend und mühsam. Die Bürokratie erwies sich in unserer Situation nicht gerade als hilfreich», erzählt Corinne Künzi und beisst sich auf die Lippen. Jedenfalls zehrte das Burn-out nicht nur an den Nerven aller Beteiligten, sondern auch an den Finanzen. Das Ersparte wurde aufgebraucht, weil die Leistungen nur auf 80 Prozent des versicherten Lohns basierten. «Ich hatte permanent ein schlechtes Gewissen gegenüber den Kindern und meiner Frau. Das trug nicht gerade zur Genesung bei», sagt Künzi rückblickend.

Beruflich wieder da

Heinz Künzi ist der berufliche Wiedereinstieg geglückt, obwohl er sich anfangs schon fragte, was er denn überhaupt auf dem Arbeitsmarkt noch wert sei. Mittlerweile arbeitet er wieder zu 100 Prozent, muss aber achtsam bleiben, um sich nicht wieder zu übernehmen. Nach dem Aufenthalt in Meiringen machte Heinz Künzi eine pädagogische Ausbildung zum Erwachsenenbildner. Sein Wissen wendet er im Teilzeitpensum bei einer Bank in der Berufsbildung an. An der Höheren Fachschule Bürgenstock, Bildungszentrum des Verbands Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten, ist er Dozent für die Weiterbildungen zum Projektleiter, Techniker und Schreinermeister sowie Experte bei Projektarbeiten. Auch der Betrieb, für den er vor seinem Burn-out arbeitete, freut sich, Heinz Künzi ab und zu wieder im Avor-Bereich zu beschäftigen. Ausserdem unterrichtet er Schreinerkonstruktion und Werkzeichnen bei der Stiftung WQ Solothurn. Nach all den Jahren voller Ungewissheit hat er sein Leben umstrukturiert und beruflich wieder Fuss gefasst. Und während er dem inzwischen 15-jährigen und leicht ergrauten Kater Karlo das Köpfchen krault, sagt er: «Mit Mut, Kreativität, verständnisvollen Auftraggebern und vor allem dank meiner grossartigen Familie geht es für mich auch nach dem Burn-out weiter. Aber wir müssen immer noch achtsam sein.»

Die Erfahrung nimmt einem niemand ab

Auch der Unternehmer Max Koch (Name geändert) hat ein Burn-out durchgemacht. Das liegt zwar schon einige Monate zurück, aber immer muss er ganz genau aufpassen und mit seinen Kräften haushalten, damit er nicht wieder in diese Hölle hineinschlittert. «Ich kann meine Erfahrungen nicht weitergeben. Das Wort Erfahrung kommt ja von ‹erfahren›. Erfahrungen muss man selber machen», ist sein Credo. Dass er nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen möchte, hat für ihn nichts mit Heimlichtuerei zu tun. «Im privaten und geschäftlichen Umfeld ist es sowieso bekannt. Spricht man mich darauf an, so gehe ich offen damit um», sagt Koch. Berichtet er von seinem Burn-out, hängen erstaunlich viele gleich ein und sagen, dass sie bei jemandem, den sie kennen, ein Burn-out befürchten. Es kommt auch vor, dass man ihn bittet, ein ernstes Wörtchen mit einem «Übertreiber» zu reden. «Heute sage ich immer, er solle doch einen Psychiater aufsuchen. Die sind echte Profis.» Früher hätte er das Problem des anderen sofort zu seinem eigenen gemacht, hätte sich verantwortlich gefühlt und unter Druck gesetzt. Und das hundertfach. Sich abzugrenzen, hat Max Koch erst lernen müssen, darum auch hier diese Anonymität.

Leidenschaft bringt Erfolg

Die Werkstatt des Bauernhofs seiner Eltern war sein Spielzimmer. Mit einem Stück Holz unter der Säge blühte der Knirps auf. Später, als Primarschüler, schreinerte er einem Nachbarsbuben für dessen Traktörli diverse Anhänger. Der Lebensplan ging auf. Max Koch wurde Schreiner. Ein sehr erfolgreicher sogar. Seit zehn Jahren führt er einen eigenen Betrieb mit knapp einem Dutzend Mitarbeitenden. «Immer wollte ich Höchstleistung bringen, war äusserst kritisch mit mir und pushte mich selbst», sagt er. Seine Firma lieferte zuverlässig Qualität. Gestalterisch anspruchsvolle Projekte forderten die Macher heraus. Dann war Koch in seinem Element. Die Presse feierte ihn. Die Öffentlichkeit applaudierte. «Der Erfolg bestätigte mich und trieb mich an. Ich schob Termin um Termin rein. Das hat noch Platz und das auch noch, und das mache ich auch noch schnell. Der Körper gewöhnt sich an immer mehr Belastung.» Das zum Überlaufen volle Fass war sein Los als erfolgreicher Unternehmer.

Zuerst Baldrian, dann Schlaftabletten

Nicht so richtig Appetit. Schnell runter damit. Bei Gesprächen am Familientisch klinkte er sich aus. Andere Gedanken lagen wie ein schwerer Teppich auf seinem Gehör. Gegen den schlechten Schlaf nahm er zuerst Baldrian, dann Tabletten. «Vorübergehend, bis es wieder besser geht», sagte er sich. Anfangs versuchte er, seine Schwäche zu vertuschen. Vor zwei Jahren dann der Zusammenbruch. «Bei einem Kunden hatte ich gerade einen Auftrag entgegengenommen, als es mir schwarz vor Augen wurde.» Der Hausarzt diagnostizierte Überbelastung und verordnete ihm den Ausstieg aus dem Arbeitsprozess. Er war entsetzt, fiel aus allen Wolken. 14 Tage zu Hause, dann 4 Wochen Reha. «Die totale Niederlage. Vor meinen Augen stand die Firma still. Der Psychiater sagte mir, dass ich aus dem Loch nur herauskomme, wenn ich kooperiere», erzählt er. «Psychiater!» Früher der Inbegriff von Niederlage, wurde dieser jetzt sein Verbündeter. Max Koch macht Yoga und Nordic Walking, lässt sich auf Fango ein und liest sogar ein Buch. «Die ersten 14 Tage fand ich es doof, langweilig, unnötig. Plötzlich machte es klick. Wenn du hier wieder raus willst, musst du alles aufsaugen, was man dir hier bietet», sagte er sich. Nach fast zwei Monaten Arbeitspause kehrte der entschleunigte Max Koch wieder nach Hause zu seiner Familie zurück.

Die Firma neu organisiert

Die erste Woche durfte er gar nicht arbeiten. Das war auch nicht nötig, denn sein Team hatte sich während seiner Abwesenheit so gut organisiert, dass er im Moment nur im Weg gewesen wäre. Ein Psychologe kam in die Firma und erklärte den Mitarbeitenden, dass der Wiedereinstieg schrittweise geschehen werde und nur gelinge, wenn alle mitmachen. «Wir richteten den Alltag so ein, dass keiner in so eine Situation rutschen kann, wie ich es tat», sagt Max Koch. Er spricht von «wir». «Ohne das Wohlwollen und das Mitwirken von Team und Familie wäre so ein Kraftakt nicht möglich gewesen», sagt er. Für die Planung schaffte Koch eine Branchensoftware an.

Freitag, 16 Uhr, ist Feierabend

Früher sagte er immer: «Machen wir noch, geht noch.» Heute sagt er sich: «Will ich es? Tut es mir gut?» Und vor allem hat er gelernt, Nein zu sagen, wenn ihn ein Ja unter Druck setzen würde. «Heute empfinde ich das als Erfolgserlebnis.» Und wenn das Telefon klingelt, ist nicht mehr immer gleich der Chef am Apparat. «Das meiste können meine Mitarbeiter genauso gut beantworten.» Max Koch hat neu zwei E-Mail-Adressen und zwei Handynummern – für privat und geschäftlich. Freitag um 16 Uhr ist Feierabend. Früher las er dann noch die E-Mails, und die unerledigten Anfragen nahmen ihm zwei Nächte lang den Schlaf. «Heute wartet das bis Montag und ist dann in der Regel innerhalb von zwei Minuten am Telefon erledigt. Kurz anrufen ist effizienter, als hin und her mailen», sagt er. Auch Whatsapp und Co. hat Koch neu trainiert: «Das Häkchen erst mal stehen lassen. Sich nicht zu einer rasanten Antwort verpflichtet fühlen und im Zweifelsfall einen Spaziergang dazwischenschalten.» Helfen um jeden Preis hat er sich abgewöhnt. «Doch wenn ich andere mit meiner Geschichte erreiche und auch nur ein einziges Burn-out verhindern kann, so ist das eine prima Sache», sagt Max Koch.

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 11. März 2021 / Ausgabe 11/2021

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