Luft nach oben

Treppe in Innsbruck: Eine Stufe wurde als Ablagefläche oder Sitzbank nach hinten verlängert. Arnaldo Dal Bosco (Thomaseth Treppen)

Mineralwerkstoffe.  Treppen aus Mineralwerkstoffen wie Corian, Hi-Macs oder Varicor sind in der Schweiz immer noch eher eine Seltenheit. Warum, ist nicht ganz klar, denn das Material eignet sich aufgrund seiner Eigenschaften sehr gut für den Treppenbau. Eine Annäherung.

Treppen aus Mineralwerkstoff? – «Es gibt Projekte, aber sie sind selten», sagt Yves Glauser, Geschäftsleiter der Kläusler Acrylstein AG mit Sitz in Bassersdorf ZH. Das Unternehmen hat in der Schweiz und in Liechtenstein die Exklusivvertretung für den Mineralwerkstoff Hi-Macs. Er habe sich auch schon gewundert über die Zurückhaltung, Mineralwerkstoffe für Treppen einzusetzen. «Wahrscheinlich liegt es daran, dass für die Schweizer der Gebrauch von Mineralwerkstoffen im Treppenbau eher neu ist.»

Ein Projekt, in das die Firma Kläusler involviert war, wurde 2015 beim Umbau des Ladenzentrums Leimbach in Zürich realisiert. Das Unternehmen lieferte Material für das Geländer einer geschwungenen Treppe ins Untergeschoss mit Parkplätzen und Toiletten sowie für Sitzkuben, die im gleichen Stil ausgeführt werden sollten. Umgesetzt wurde das Projekt von der Schreinerei R. Brunner AG in Zürich. «Die Wahl des Materials kam von den Architekten», erinnert sich Guido Maier, stellvertretender Geschäftsleiter und Projektleiter der Schreinerei. Hi-Macs eigne sich sehr gut für Anlagen in öffentlichen Gebäuden. «Reinigung und Reparaturen sind einfach, zum Beispiel auch das Entfernen von Graffiti.»

Herausforderungen waren in diesem Objekt die Grösse der Formteile, ihr Gewicht sowie die Temperaturdifferenzen: Durch ein Oblicht in der Mall brennt die Sonne direkt auf die Hi-Macs-Elemente, im unteren Geschoss mit der Garage ist es dagegen eher kühl. «Wir rechneten mit einer Temperaturdifferenz innerhalb der Treppenanlage von bis zu 20 Grad.» Deshalb habe man die Elemente nicht verklebt, sondern mit einer sichtbaren Fuge konstruiert. «Hi-Macs hat ein Ausdehnungsverhalten wie Aluminium. Die Spannungen wären gross geworden, es hätten sich Risse bilden können.»

Design aus dem Südtirol

Dass hierzulande Treppen aus Mineralwerkstoff rar sind, gibt auch Bruno Kiser einige Rätsel auf. Er ist Inhaber und Geschäftsleiter der Schreinerei Meyer AG in Ennetbürgen NW, die in der Schweiz den Mineralwerkstoff Varicor vertritt. «Eigentlich besitzen Mineralwerkstoffe lauter Eigenschaften, die gut sind für den Treppenbau.» Kiser nennt zum Beispiel die Möglichkeit, Elemente fugenlos zusammenzufügen, die edle Erscheinung des Materials und die gute Verformbarkeit. «Formteile aus Holz sind deutlich schwieriger auszuführen.»

Offensichtlich sei Mineralwerkstoff als Material für den Treppenbau hier bei den Architekten zu wenig hoch im Kurs, sagt Kiser. Im Gegensatz zum nahen Ausland. Von dort sind ihm einige sehr schöne Beispiele von Varicor-Treppen bekannt. Besonders sticht die Firma Thomaseth Treppenbau in der Südtiroler Ortschaft Kastelruth hervor. Was der kleine Handwerksbetrieb mit vier Mitarbeitenden in Norditalien, Österreich, Deutschland und vereinzelt auch in der Schweiz schon realisiert hat, ist in der Tat sehr bemerkenswert. Die Treppen zeugen von hohen handwerklichen Fertigkeiten.

Die Schöne vom Gardasee

Die Reinheit des Materials macht aus den Treppen des Südtiroler Unternehmens Skulpturen von grosser Eleganz. Ein Beispiel findet sich in einem Ferienhaus direkt am Gardasee. Die Treppe besteht aus zwei Läufen. Der untere Teil der Treppe, der die Hälfte der Geschosshöhe überwindet, ist auskragend. Die Varicor-Stufen sind mit einem speziellen, geheim gehaltenen Verfahren direkt in der verputzten Betonwand befestigt – ohne Hilfsmittel aus Metall. Die Stärke der Stufen beträgt 72 Millimeter, wobei sie nicht durchgehend aus Varicor bestehen. Der Mineralwerkstoff ummantelt einen Kern aus Holzwerkstoff. «Die statischen Eigenschaften des Materials würden es nicht erlauben, eine solche Konstruktion massiv auszuführen», sagt Firmeninhaber und -chef Stefan Thomaseth. Auch mit dem Holzkern schwingen die Stufen beim Begehen noch leicht, «aber in einem absolut akzeptablen Mass». Die Hülle aus Mineralwerkstoff ist fugenlos verklebt.

Vom Podest auf mittlerer Höhe führt der zweite Lauf als Faltwerktreppe ins obere Geschoss. Die Stufen sind ebenfalls 72 Millimeter stark und von gleicher Machart wie im unteren Teil, liegen hier aber direkt auf der Betonunterlage auf, in die sie unsichtbar verankert und verklebt sind. Auch die Stufen untereinander sind unsichtbar verbunden. Die Stösse sind stumpf, weil die Fuge ja gar nicht in Erscheinung tritt. Flankiert wird der obere Abschnitt der Treppe von einem Geländer aus Verbundsicherheitsglas. Eingesetzt wurde Weissglas, weil dieses an den Kanten keinen Grünstich aufweist. Das Glas ist in die Stufen eingenutet, was der Konstruktion Stabilität verleiht und zudem die Montagepunkte verdeckt. «Wir verzichten generell auf sichtbare Befestigungen», sagt Thomaseth.

Auch bezüglich Rutschfestigkeit hat der Treppenbauer eine klare Haltung. «Die Erfahrung hat gezeigt, dass Mineralwerkstoff auch nach der Bearbeitung mit feinkörnigem Schleifmittel sehr rutschfest ist.» Eine lackierte Oberfläche sei deutlich rutschiger.

Die Weisse von Innsbruck

In einem Einfamilienhaus im österreichischen Innsbruck hat Thomaseth auf technisch identische Lösungen zurückgegriffen. Vom Erdgeschoss ins erste Obergeschoss führt eine 1100 Millimeter auskragende Treppe mit Varicor-Tritten in einer Stärke von 72 Millimetern. Die Stufen sitzen auch hier direkt in der Wand. Die dritte Stufe von unten ist – natürlich fugenlos – nach hinten verlängert und dient dort als Ablage oder als Sitzgelegenheit (siehe auch Bild auf Seite 8). Paradestück in diesem Gebäude ist aber die Treppe ein Stockwerk höher. Die Stufen werden beidseitig von grossen Glasscheiben getragen. Sie sind gleich ausgeführt wie bei der unteren Treppe, werden aber mit Glaspunkthaltern aus satiniertem Edelstahl gehalten. Die tragenden Glasscheiben bestehen aus Verbundsicherheitsglas in einer Stärke von 30 Millimetern. Auch hier ist Weissglas verwendet worden.

Der Bauherr legte Wert auf Transparenz und eine durchgehende Gestaltung der Innenräume in Weiss. Die Treppe mit den Glaswangen dient als «offener» Raumteiler zwischen Küche und Wohnzimmer.

In der Schweiz? – Fehlanzeige

Aktuelle Treppenprojekte aus Mineralwerkstoff in der Schweiz? – Auch die Anfrage bei der deutschen Industrie-Manufaktur Hasenkopf, international tätige Anbieterin von Formteilen aus Mineralwerkstoffen wie Corian, löst zunächst grössere, interne Abklärungen aus. Mit dem Resultat: Fehlanzeige! Hasenkopf realisiert sehr wohl tolle Corian- Treppen, aber eben selten in der Schweiz. Als Beispiel zum Präsentieren hebt das Unternehmen die Corian-Treppe an seinem Hauptsitz im rheinland-pfälzischen Mehring hervor (Bild).

www.himacs.chwww.brunner-schreinerei.chwww.varicor.chwww.thomaseth.itwww.hasenkopf.de

Martin Freuler

Veröffentlichung: 20. Januar 2022 / Ausgabe 3/2022

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