Mehr als ein Aufbewahrungsort

Ein Kunstobjekt bar jeder Funktion: das umgestürzte Modell der Kathedrale von Chartres. Bild: Adrien Millo

Ausstellung.  «Cupboard Love» heisst die neue Ausstellung am Gewerbemuseum Winterthur. Sie rückt das Stiefkind Schrank ins Rampenlicht. Dieser durchlief im 20. Jahrhundert eine rasante Entwicklung hinsichtlich Gestaltung, Konstruktionsweisen und eingesetzter Materialien.

Golden und protzig steht der Schrank «Chartres» (2009–2012) des belgischen Studios Job im Eingangsbereich des Gewerbemuseums in Winterthur ZH. Die gleichnamige Kathedrale war Inspiration für das 1,1 Tonnen schwere Möbel, eine Referenz an den kirchlichen Reliquienschrank. Buchstäblich ein Leichtgewicht ist dagegen das 26 Kilogramm leichte Aufbewahrungsmöbel «Dresscode» (2004) des Schweizer Designers Jörg Boner. Zwischen diesen beiden Polen eröffnet die Ausstellung «Cupboard Love: Der Schrank, die Dinge und wir» facettenreiche Zugänge zum Möbel als Design-, Kunst- und Kulturobjekt.

Meterweise Schränke im Archiv des Landesmuseums in Affoltern ZH haben Susanna Kumschick, Kuratorin des Gewerbemuseums, auf die Idee zu dieser Ausstellung gebracht. «Der Schrank ist ein verkanntes Möbel», sagt sie. Als praktischer Behälter mit verschiedenen Formen und Funktionen sei er oft sperrig, am liebsten wolle man ihn loswerden. «Zu Unrecht.»

Kumschick inszeniert den Schrank in seiner Funktion als Ort der Aufbewahrung, nähert sich Gestaltungsformen an und leuchtet sein bildhaftes Potenzial aus. Auf diesen fachübergreifenden Sichtweisen fusst auch der dreiteilige Ausstellungsaufbau.

Symbol von Lebensentwürfen

Im ersten grossen Raum steht der Schrank als Einrichtungsgegenstand und als Statussymbol im Vordergrund, wie das «Lehrstück IV» (1978) des Schweizer Designerpaars Trix und Robert Haussmann zeigt: ein Spiegelschrank mit Intarsienarbeiten in Birnbaum und Ahorn. Im krassen Gegensatz dazu rangiert «Proposta per un Autoprogettazione» (1974) vom italienischen Designer Enzo Mari. Dessen Siebzigerjahrebotschaft: «Do it yourself» – kostengünstig, mit Dachlatten und Spanplatten, Nägeln und einfachen Werkzeugen. Den kritischen Umgang mit den Ressourcen nahm Mari schon vorweg, 30 Jahre vor den sogenannten Hartz-IV-Möbeln und Open-Design-Konzepten.

Kind einer anderen Zeit ist «Schatulla» (2008), die Neuinterpretation eines traditionellen Aussteuerschranks vom Engadiner Schreiner Ramon Zangger. Für ein ganzes Leben war der Schrank einst gemacht, so auch dieser: Solid konstruiert, aus Massivholz mit eigens entwickelten Metallbeschlägen und CNC-gefrästen Rosetten erinnert er an nachhaltigen Umgang mit kultureller Tradition und einstiger Sesshaftigkeit.

Konstruktionen im Spiegel der Zeit

Schränke sind immer Spiegelbild ihrer Erbauungszeit. Man nehme zum Beispiel «Pavatex» vom Schreiner Willy Guhl, im Jahr 1942 als sogenanntes Paketmöbel entworfen. Eine tragende Rahmenkonstruktion aus Tanne und Füllungen aus gestrichenen, lackierten Faserplatten ermöglichten die serielle Herstellung in Kriegszeiten.

Die Ausstattung fürs Leben hat in den vergangenen 150 Jahren ständig an Bedeutung verloren, so lautet ein Fazit der Ausstellungsmacher. Neues Design, Materialien und Konstruktionsweisen sind eine Reaktion auf veränderte Lebensentwürfe und den technischen Fortschritt der Industrialisierung. Dem mobilen Leben trägt auch «Safari» vom gleichnamigen Schweizer Design-Label Rechnung. Das Möbel ist reduziert auf beschichtetes Birkensperrholz, Storenstoff und Kork. Die CNC-gefrästen Einzelteile muss man nur zusammenstecken – fertig! Aus dem Abschnittholz werden Kleinteile produziert. Was die Designer Valerie Notter de Rabanal und Simon Hehl entwickelt haben, ist gleichzeitig Mobilitäts-, Ressource- und auch Sozialkonzept. Eine sozialwirtschaftliche Stiftung übernimmt die Herstellung, der Versand erfolgt in zwei Post- paketen.

Übergangsort in andere Welten

Im zweiten Ausstellungsraum geht es um das metaphorische Potenzial der stummen Diener: als ein wundersamer Ort, wie die projizierte Schrankszene aus dem Film «Das Kabinett des Dr. Caligari» suggeriert. Als Giftschrank haftet ihm auch das Geheimnisvolle an. Und als Wissensdepot der Spätrenaissance diente er für seltene Naturalien, wissenschaftliche Instrumente und Unerklärliches. Die moderne Interpretation des Schranks ist der «industry cabinet» (2006), eine aufwendige Intarsienarbeit aus weiss gebeiztem Vogelaugenahorn und schwarz gebeiztem Tulpenbaumholz.

Bildmotive wie Kühltürme, Gasmasken, Skelette und Kriegsschiffe verzerren die Sache ins Groteske. Vollends ad absurdum führen die Kunstwerke den Schrank in einem dritten Ausstellungsteil. «Hose» (2015) heisst er beim Schweizer Künstler Roman Signer lapidar: Ein Holzkasten dient als Hülle für das gleichnamige Verzweigungsstück eines Lüftungsrohrs.

Die Ausstellung

Das Stiefkind im Rampenlicht

Die Ausstellung «Cupboard love: Der Schrank, die Dinge und wir» widmet sich dem Möbel als Design-, Kunst-, und Kulturobjekt. «Ich liebe dich, weil ich dich brauche», sagt ein Sprichwort. Vielfach gilt das Aufbewahrungsmöbel als notwendiges Übel. Nun steht es für einmal im Rampenlicht. Wohn-, Büro- und Wissenschränke der vergangenen 150 Jahre spiegeln in ihrer Konstruktionsweise und Materialisierung die industrielle Entwicklung wie auch den Zeitgeist wider. Das Behältnis inspiriert Künstler zu Installationen und Fotografien, dessen kulturgeschichtliche Bezüge erhellen zahlreiche Spielfilme, Prospekte und Magazinbeiträge. Das Gewerbemuseum Winterthur zeigt die Arbeiten bis am 22. April 2018. Zum Programm zählen Vorträge und Workshops.

www.gewerbemuseum.ch

mz

Veröffentlichung: 14. Dezember 2017 / Ausgabe 50/2017

Artikel zum Thema

25. April 2024

Simple, praktische Designexponate

Möbel.  Als weltweit grösste Designmesse lockt der Salone del Mobile jedes Jahr unzählige Besucher nach Mailand. So auch heuer wieder, wo sich Interessierte aus allen Herren Länder von den neusten Trends, Farben, Formen und Materialien inspirieren liessen.

mehr
24. April 2024

Horgenglarus zügelt in ehemalige Wolltuchfabrik

Möbel. Die AG Möbelfabrik Horgenglarus verlagert ihre Produktion bis April 2027 komplett in die frühere Wolltuchfabrik Hefti in Hätzingen GL. Der neue Sitz der 144-jährige Traditionsfirma liegt ebenfalls im Kanton Glarus, nur wenige Kilometer südlich des jetzigen Standorts.

mehr

weitere Artikel zum Thema:

Möbel