Stühle frisch vom Feld

Der Stuhl aus Weidenholz wächst aus einer einzigen Pflanze. Nach der Ernte schlägt der Wurzelstock wieder aus. Bild: Full Grown

Möbelplantage.  Ein Gärtner aus Grossbritannien lässt Stühle, Lampen und Betten aus dem Boden wachsen. Er tüftelte im Garten seiner Schwiegermutter, bis er die richtige Technik gefunden hatte. Heute betreibt er eine grosse Möbelplantage und produziert immer höhere Stückzahlen.

Gavin Munros Leidenschaft fürs Möbelbauen erwachte, als er mit Treibholz zu hantieren begann. Dieses sammelte der Gärtner bei seinen Strandspaziergängen. «Das war wie Shopping am Strand. Du nimmst, was die Natur dir schenkt.» Mittlerweile kommt der Brite auf andere Weise zum passenden Material für seine Möbel: Er lässt Bäume in die richtige Form wachsen. «Wir machen eine Art organischen 3D-Druck im Zen-Modus. Jedes Stück verbindet Geduld und Zusammenarbeit mit der Natur», sagt er.

Stühle, Lampenschirme und Tische

Grossteils verwendet Munro Korbweiden (Salix viminalis). Seit einigen Jahren testet er weitere Baumarten. Darunter Esche, Eiche und Hasel. Besonders ansprechend findet er das Holz seiner Holzapfelbäume. Er pflanzt Stühle, Lampenschirme und neuerdings auch Tische. Wer weiss, was ihm künftig noch einfällt. Seine Technik unterscheidet sich im Grunde wenig von jener, die man traditionell bei Spalierobst anwendet. Er bringt das Holz beharrlich dazu, in die passende Form zu wachsen. Die Äste werden geduldig in die gewünschte Richtung gelenkt und immer wieder mit Draht fixiert, bis das Ganze tatsächlich die Gestalt eines Stuhls angenommen hat. Dort, wo ein Möbelstück besonders stabil sein muss, führt Munro auch mal zwei Zweige so eng aneinander, dass sie zusammenwachsen. Stimmt die Form, heisst es warten, bis die Äste dick genug sind, um die nötige Stabilität zu garantieren. Je nach Witterungsbedingungen ist das bei einem Stuhl nach vier bis acht Jahren so weit. Dann kann Munro zur Säge greifen. Ein Lampenschirm ist schon nach drei Jahren bereit zur Ernte. Zu langsam? Das finden nur andere. Munro ist sogar der Ansicht, dass seine Produktionsweise besonders effizient sei: «Ein Baum kann frühestens nach 50 Jahren gefällt werden. Dann muss man ihn transportieren und zersägen, um ihn anschliessend wieder zu Möbeln zusammenzusetzen.» Ein Prozess, der ihm umständlich erschien.

Kühe fielen über die Stühle her

«Wir haben eine elegante, einfache Produktionsmethode entwickelt, die Sauerstoff produziert, CO2 absorbiert und nebenbei noch Vögeln und Bienen ein Zuhause bietet.» Dabei behauptet Munro nicht einmal, das Rad neu erfunden zu haben. Immer wieder haben Künstler und Tüftler in der Vergangenheit versucht, das Gleiche zu machen, allerdings nie im grossen Massstab.

So simpel und einleuchtend die Methode auch scheint, Munro hat sie erst nach einigen Rückschlägen perfektionieren können. Schnell musste er lernen, dass er mit den Bäumen arbeiten muss, nicht gegen sie. Der erste Prototyp wuchs noch im Garten seiner Schwiegermutter. Vier Weiden für vier Beine, die weiter oben zu Sitzfläche und Lehne zusammengeführt wurden. An ihm hat er diese erste, wichtige Lektion gelernt. Zwang er einen Trieb zu sehr in die falsche Richtung, starb dieser ab und der Baum trieb einfach neu aus. Und mit Sicherheit nicht dort, wo es für einen schön geformten Stuhl hilfreich gewesen wäre.

Seine erste Stuhlplantage lag dann auf einem Grundstück, das sich als zu schattig erwies. Munro musste ein geeigneteres finden, es urbar machen und neu anpflanzen. Zwei Tage, nachdem der letzte Baum gepflanzt war, kam der nächste Rückschlag. Die Kühe des Nachbarn hatten nichts Besseres zu tun, als aus ihrem Gatter auszubüxen und die Plantage niederzuwalzen. Munro musste nochmals von vorn beginnen.

Produktion auf den Kopf gestellt

Der Möbelgärtner hat seit den ersten Versuchen auf dem schwiegermütterlichen Grundstück auch die Produktionsmethode selbst buchstäblich auf den Kopf gestellt. Denn die Lehne des Prototyps wirkte zu dünn. Mittlerweile wächst jeder Stuhl kopfüber, sodass die Beine zuletzt als oberster Teil entstehen. Der sich verzweigende Trieb wird erst zur Rückenlehne geführt und von dort in Richtung Sitzfläche und Beine geleitet. Auf diese Weise gelingt es Munro, jedes Möbelstück aus einer einzigen Pflanze zu ziehen. Das minimiert das Ausfallrisiko.

Sind die Möbel fertig, werden sie abgesägt. Die zurückgebliebenen Wurzeln treiben wieder aus, der Kreislauf beginnt von vorn.

Bevor die Stühle fertiggestellt werden können, muss das Holz erst einmal in Ruhe trocknen. Die Möbel werden nur zurückhaltend bearbeitet. Munros Mitarbeitende schleifen dort glatte Flächen, wo diese für den Sitzkomfort notwendig sind. Wo möglich bleibt die Rinde erhalten, um das «Gewachsene» spürbar zu lassen.

Erster Export in die Schweiz

Die Natur braucht ihre Zeit. So betreibt Munro zwar seit zehn Jahren eine Stuhlplantage, kann aber heuer erstmals eine Ernte mit nennenswerten Stückzahlen anstreben. Deshalb sind die Preise noch hoch. Er hofft aber, sie durch steigende Produktionsmengen in Zukunft senken zu können. Eine Lampe kostet um die 700 britische Pfund, ein Stuhl etwa 2500. Die allererste Lampe, die Munros Unternehmen Full Grown produzierte, wurde übrigens in die Schweiz verkauft. «Die Fertigstellung der Lampe dauerte deutlich länger als gedacht», sagt Munros Mitarbeiter Ed Lound. Auf weitere Lieferverzögerungen durch den Versand wollte man es nicht ankommen lassen.

Gavin Munro und seine Frau beschlossen kurzerhand, samt Lampe ins Flugzeug zu steigen und sie persönlich nach Zürich zu bringen. Allerdings schaffte es Munro nur bis zur Passkontrolle. Er hatte in der Eile einen abgelaufenen Pass eingesteckt. Damit wollte man ihn nicht fliegen lassen. Seine Frau lieferte die Lampe schliesslich allein bei der begeisterten Kundin ab.

Kein Problem mit Nachahmern

Laut Munro liessen bereits die alten Griechen und Ägypter Stühle wachsen. Auch im 20. Jahrhundert wurden immer wieder Möbel ähnlich produziert, allerdings eher im Rahmen von Kunstprojekten, Kleinserien oder für den Eigenbedarf. Munro jedoch hat ein ganzes Feld mit Möbeln. Dabei darf man den Aufwand nicht unterschätzen: «Wir produzieren nur etwa 50 Stück pro Jahr. Aber für 100 Bäume, die man anbaut, muss man 1000 Zweige pflegen und 10 000 Äste zur richtigen Zeit in die richtige Form leiten.» Im Grunde, so findet er, sei es fast schon eine eigene Kunstform, das alles organisatorisch unter einen Hut zu bringen.

Das wachsende Medieninteresse hat Munro bereits zahlreiche Anfragen von Personen eingebracht, die etwas Ähnliches aufziehen wollen. Er hat damit kein Problem: «Das ist ein Open-Source-Projekt. Auf meiner Internetseite kann im Grunde genommen jeder sehen, wie es geht.» Da braucht es nur noch ein Stück Land, viel Geduld und ein gutes Gefühl für Pflanzen.

Full Grown arbeitet schon am nächsten Projekt. Man will ein Bett pflanzen. Wenn alles klappt wie geplant, besteht auch dieses aus einer einzigen Pflanze.

www.fullgrown.co.uk

ava

Veröffentlichung: 09. November 2017 / Ausgabe 45/2017

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