Wie die Japansäge in die Schweiz kam

Die Japansäge ist fein gezackt und arbeitet auf Zug und nicht auf Stoss. Bild: Beatrix Bächtold

Handsäge.  Wenn möglichst beschädigungsfrei und präzise gesägt werden soll, holen Schreiner die Japansäge aus der Werkzeugkiste. Was kaum einer weiss: Bootsbauer Markus Eigenmann brachte das Werkzeug vor einem Vierteljahrhundert als einer der Ersten in die Schweiz.

Man schreibt das Jahr 1994. In Deutschland war die Mauer seit fünf Jahren weg, in Südafrika fällt die Apartheid, Bruce Springsteen singt «Streets of Philadelphia». Genau zu dieser Zeit entdeckt der Bootsbauer Markus Eigenmann zum ersten Mal diese merkwürdige Säge, und zwar ausgerechnet bei einem Wandergesellen des sogenannten Schachts «Axt und Kelle». Handwerker dieser Vereinigung ziehen Eigenmann seit Längerem in ihren Bann. Im Schacht, der 1970 unter dem Einfluss der Neuen Sozialen Bewegung gegründet wurde, wollen sie ohne Hierarchie, frei und selbstbestimmt arbeiten. Auch Frauen – von anderen Vereinigungen ausgeschlossen – sind dabei. Das bunte Grüppchen zieht umher und arbeitet hauptsächlich auf Baustellen der alternativen oder gemeinnützigen Szene. Kurz: Sie sind so illuster und faszinierend wie die Säge, die sie, in Tücher gewickelt, mitführen. Deren Blatt ist viel dünner als das der europäischen Feinsäge. Ihr Griff aussergewöhnlich lang. Ein geheimnisvolles Ding.

Sie benötigt Fingerspitzengefühl

Eigenmann ist ein leidenschaftlicher Handwerker. Einer, der chrampft und schwitzt, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Holz ist ihm wichtig. Und ja, er verfügt neben viel Idealismus auch über eine grosse Portion berufliche Neugierde. Er fragt, ob er diese Säge einmal näher anschauen dürfe. Schnell stellt er fest, dass der lange Stiel von zwei Händen gepackt werden will. Und dieses verflixte Ding schneidet nicht auf Stoss, sondern auf Zug. Es braucht schon Fingerspitzengefühl und Umdenken, bis man den Dreh raus hat. Aber sobald die feinen, induktiv gehärteten Zähnchen sich mit Leichtigkeit ins Material gebissen haben, gleiten sie auch schon wie geschmiert durchs Holz. Geringe Kraft, grosse Wirkung. Auf dem Sägeblatt befinden sich geheimnisvolle japanische Schriftzeichen. Der junge Bootsbauer macht grosse Augen. «Geflasht», so würde man heute das Gefühl beschreiben, das ihn beim Gebrauch dieser Säge überkam. So eine möchte er auch gerne haben.

Sofort kaufen! Aber wo und wie?

Auf der Suche nach einer Japansäge telefoniert er in der ganzen Schweiz herum. Ohne Erfolg, denn von der exotischen Säge hatte noch niemand gehört. Durch die Schweizerisch-Japanische Handelskammer findet Eigenmann dann den Kontakt zu japanischen Firmen, die solche Sägen führen. Doch bei denen besteht kein Interesse, kleine Mengen zu liefern. Es sind immer mehrere Dutzend pro Sendung, und mit Muster sind sie sehr zurückhaltend. Eigenmann beschliesst, selbst nach Japan zu reisen. Hier findet er einen kleinen Händler in der Nähe der Hafenstadt Kobe. Vor der Abreise besucht er einen Kurs, um sich mit den japanischen Gepflogenheiten vertraut zu machen. Japan ist nicht irgendein Land. Die Höflichkeitsformeln sind so geschliffen wie die Werkzeuge. Da kann man viel falsch machen, wenn man sich nicht auskennt. «Gerade diese Feinheiten faszinieren mich. Drei verschiedene Alphabete. Literatur, Architektur, Teekultur, Lack- und Holzkunst. Japan zog mich magisch an», sagt er heute. «Wenn man jahrhundertelang als Insel keinen Kontakt zu anderen Kulturen hat, findet im Inneren eine Art Verfeinerung statt. Ich spürte das. Persönlich und auch beruflich war das für mich eine ungeheure Bereicherung.»

Erster Handel bei einem Schluck Sake

Eigenmann holte den japanischen Werkzeughändler aus Kobe ins Boot und gründete einen Versandhandel für eben diese Japansäge. Er liess Prospektmaterial drucken und besuchte mit einem der raren Muster der Japansäge die Schweizer Händler. «Einer servierte mir zwar Kaffee und hörte mir höflich zu, war aber schliesslich nicht interessiert», sagt er. Wie verblüfft muss der Händler gewesen sein, als er kurz darauf den Ansturm auf Eigenmanns kleinen Stand an der Messe Holz in Basel registrierte? «Ich will ihnen sagen, was ich falsch machte, als ich Sie mit meinem Muster besuchte. Ich hätte Ihnen nichts erzählen, sondern Sie mit dieser Säge arbeiten lassen sollen. Es heisst ja Handwerk. Da kann man nicht optisch verkaufen. Handwerk und Handel funktionieren über die Hand und nicht übers Auge», sagte Eigenmann zum Händler und trank mit ihm einige Gläser Sake. Noch am gleichen Abend wurde der Händler Kunde. Er ist es heute noch.

Noch mehr aus Japan

Inzwischen importiert Eigenmann nicht nur Japansägen, sondern auch japanische Küchenmesser, Furnier- und Reissbeitel und Hämmer. Diese haben proportional zum Stahlteil einen längeren, feineren Stiel aus Eschenholz. Auf der einen Seite plan, auf der anderen Seite leicht ballig, wirkt der «Genno», wie die Japaner sagen, für europäische Augen ungewohnt. Aber beim Gebrauch spürt der Holzhandwerker schnell die Vorteile. Die plane Seite eignet sich für Eintreibarbeiten, die dicht an Innenkanten liegen. «Für kleine Nägel an ungünstiger Stelle sind sie der Hit», sagt der Importeur. Und will man den Nagel mit Versenkung des Nagelkopfs einschlagen, nimmt man die ballige Seite. Somit schont man die umliegende Holzfläche. Auch die japanischen Stechbeitel kommen in der Schweiz gut an. Im Vergleich zum herkömmlichen Stechbeitel ist dessen Metallteil viel kürzer. So erreicht man ungünstige Winkel besser. Und wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass die Klinge aus zwei verschiedenen Stahlsorten besteht. Die äussere ist deutlich härter und feiner in der Struktur. «Das gibt einen anderen Schnitt. Wie poliert», sagt Eigenmann. Der weichere, innere Metallkern federt die Schwingungen ab. «Der harte würde brechen, wenn er alleine wäre.»

Der Handel mit diesen Werkzeugen, die Eigenmann im eigenen Webshop und über das Klotener Familienunternehmen Opo Oeschger vertreibt, ist wirtschaftlich nicht tragend. Inzwischen ist der hiesige Markt gesättigt, es gibt Kopien und Nachahmer. Doch er importiert jährlich immer noch mehrere Hundert dieser Qualitätswerkzeuge. «Es ist etwas, das mir so richtig Spass macht. Das Wissen über alte Handwerkskunst, über traditionelle, längst vergessene Möglichkeiten der Holzbearbeitung, und der Respekt gegenüber Menschen und Material sind tief in mir verwurzelt», sagt er.

Ursprünglich hat Eigenmann in der Pedrazzini Yacht AG in Bäch im Kanton Schwyz Bootsbauer gelernt, weil er schon als Kind fasziniert war von der Piratenwelt. Noch heute hütet er Werkzeuge aus der Lehrzeit wie einen Schatz. Besonders stolz ist er auf einen antiken und ziemlich altertümlich aussehenden, portugiesischen Schiffhobel. Dessen handbreite, gebogene Klinge lässt sich einfach umdrehen, sodass man mit ihr sowohl konkave als auch konvexe Formen hobeln kann.

Fliessend «Denkmalzösisch»

1985 kehrte er dem Bootsbau den Rücken und gründete eine eigene Schreinerei. Er spezialisierte sich auf Altbausanierungen. «Historische Türen, Fenster, alles, was es in alten Häusern zu restaurieren gibt», präzisiert er. Mittlerweile ist die Schreinerei Eigenmann AG in Zumikon eine Spezialistin für Massivholzarbeiten bei Altbausanierungen und Innenausbau. «Wir sprechen fliessend ‹Denkmalzösisch›», lautet das Motto des Unternehmens. Eigenmann und sein Team von 22 Mitarbeitenden sanierten unter anderem in Zürich die Villa Schönberg, das Zunfthaus zur Meisen und auch das Hotel Dolder Grand. Bei der Restaurierung von antiken Holzelementen mischt die Firma vorne mit. Aber der Erfolg war nicht immer da. Man musste sich erst einen Namen machen. Amüsiert erzählt Eigenmann, wie er zu seinem allerersten Auftrag kam. Ein Kollege, der in einer alten Villa einen Ofen sanierte, wurde zufälligerweise Zeuge einer Bausitzung. Da sassen mehrere Architekten an einem Tisch und diskutierten mit Fensterbauern. Es ging um eine Auftragsvergabe für die Restaurierung gotischer Fenster. Wie der Ofenbauer während seiner Arbeit mitbekam, waren die Architekten von den Vorschlägen der Bewerber nicht so ganz überzeugt. Schliesslich wollte man weder Alu noch Kunststoff.

Als die Besprechung erfolglos verlief, mischte sich der Ofenbauer ein. Er habe einen Kollegen, der komme aus dem Schiffbau und kenne sich bestens aus mit gotischen Formen. «Er empfahl mich offenbar so leidenschaftlich, dass man mich einlud. Als mich dann der oberste Chef der Denkmalpflege fragte, ob ich so etwas schon mal gemacht habe, verneinte ich», sagt Eigenmann. Mit dem Argument, er habe aber schon viele Schiffe gebaut, die immer noch schwimmen, überzeugte der langhaarige Mann in zerrissenen Hosen. Er bekam den Auftrag. Und so durfte er die Fenster des 350 Jahre alten Ratskellers in Olten, des «Chöbu», restaurieren.

Erholung beim Waldbaden

«Mit Ehrlichkeit, Geradlinigkeit und Glück habe ich viel erreicht», sagt Eigenmann heute. Inzwischen steht er kurz vor der Pensionierung. Es gibt noch viele spannende Dinge, die er erleben möchte. Weil er das moderne Reiseverhalten eine Katastrophe findet, zieht es ihn allerdings nicht in die Ferne. Verlockender erscheinen ihm Spaziergänge durch den Wald. Einatmen. Eins mit der Natur sein. «Waldbaden», wie der Japaner sagt. Vorstellbar wäre vielleicht sogar ein vierbeiniger Freund an seiner Seite. Dann schwärmt er vom Wald, als Geburtsstätte des faszinierendsten und einzigartigsten Werkstoffs überhaupt. Und er berichtet, wie Bäume über ihre Wurzeln kommunizieren – verbunden durch ein unsichtbares Netz der Pilzwelt.

www.schreinerei-eigenmann.swisswww.eigenmann-werkzeug.ch

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 10. März 2022 / Ausgabe 10/2022

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