Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Roland Baumann (61) hat sich den Traum einer längeren Auszeit erfüllt und drei Monate in Kapstadt verbracht. Bild: PD

Leute. Bereits in seinen Zwanzigern träumte Roland Baumann von einer Auszeit. Doch bis es so weit war, verstrichen fast 40 Jahre.

1986 gründete der heute 61-Jährige zusammen mit seiner Frau und einem anderen Ehepaar eine Drogenrehabilitation. «Wir mieteten ein Bauernhaus im Emmental und bauten eine Schreinerei auf. So konnten wir unseren Klienten nebst Entzug und Therapie eine Arbeit und damit eine sinnhafte Tagesstruktur geben.» Denn: «Arbeit verleiht dem Menschen Würde und macht ihn stolz auf das Getätigte», ist der Schreiner überzeugt. «Ich war ein Idealist. Die Drogenreha war für mich eine Art Berufung.» Aber es habe ihn fast zerrissen, gibt er unumwunden zu. «Wir arbeiteten hart. Die Kunden erwarteten dieselbe Qualität und Dienstleistung wie von jeder anderen Schreinerei, dies trotz Unzuverlässigkeiten, Abstürzen und Krisen der Mitarbeitenden. «Wir haben unendlich viel Herzblut in dieses Projekt gesteckt.» Sein eigenes Bedürfnis nach einer Auszeit schob er auf die lange Bank. Doch vergangenen Dezember war es so weit: Baumann reiste für drei Monate nach Kapstadt in Südafrika, um Englisch zu lernen. Morgens und nachmittags drückte er die Schulbank. Er lebte bei einer muslimischen Familie und teilte deren Alltag. «Kapstadt ist multikulturell. Menschen unterschiedlicher Couleur und Religion leben Tür an Tür. Von Apartheid habe ich nichts gespürt.» Er schwärmt von der Metropole mit ihrer atemberaubenden Naturkulisse.

«Menschen unterschiedlicher Couleur und Religion leben in Kapstadt Tür an Tür.»

Die Stadt mit ihren 4,7 Millionen Einwohnern wachse rascher, als sie es bewältigen könne, erzählt er. Mit dem rasanten Wachstum seien Obdachlosigkeit, Korruption und Kriminalität angestiegen. «Nach 20 Uhr kannst du dich nicht mehr frei draussen bewegen. Für eine 300 Meter lange Strecke brauchst du ein Taxi.» Täglich fällt der Strom für mehrere Stunden aus. Es gibt zwar drei Atomkraftwerke, aber bloss eines funktioniert. «An heimatlosen Menschen konnte ich nicht einfach vorbeigehen. Ich schenkte ihnen etliche meiner Kleider und kaufte ihnen manchmal etwas zu essen.»

Mit vielen Eindrücken und Englischkenntnissen kehrte er Ende März zurück. Aus seiner kleinen Schreinerei ist in all den Jahren die Baumann + Eggimann AG mit 50 Mitarbeitenden geworden. Vom Rehabilitationsprogramm musste er sich trennen. Zu gross wurde der Spagat. Geblieben ist sein tief verankertes soziales Gedankengut. «Wir bieten fünf Arbeitsplätze für Menschen mit psychischen oder körperlichen Einschränkungen.» Der zusätzliche Betreuungsaufwand werde immer wieder mit Erfolgen belohnt. Der Schreiner erzählt von einem psychisch beeinträchtigten Mitarbeiter, der es geschafft hat, seine Lehre erfolgreich abzuschliessen. «Wenn er über unsere Firma spricht, könnte man meinen, sie gehöre ihm, so stolz ist er.»

Baumann ist überzeugt, dass es bei manchen Menschen bloss etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit erfordert, damit sie sich entfalten und an Selbstsicherheit gewinnen. Es brauche ein Umfeld, das Vertrauen schenke, engagierte Vorgesetzte und ein Team, das mittrage. «Für mich ist es ein befriedigendes Gefühl, wenn ich jemanden aus einer schwierigen Lebenssituation helfen kann und die Person zurück in den ersten Arbeitsmarkt findet.» Auf lange Frist sei es für die Gesellschaft und die Wirtschaft lohnender, wenn Menschen mit gewissen Handicaps wieder vollumfänglich integriert seien. Die Auszeit hat Baumann geholfen, sich Gedanken über seine eigene Zukunft zu machen und darüber, wie er diese im Sinne seines sozialen Gedankenguts weiterentwickeln und gestalten kann.

Caroline Schneider

Veröffentlichung: 19. Juni 2023 / Ausgabe 24/2023

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