Berufsbildung als Herzenssache

Dass ihre eigene Lehrzeit noch nicht lange zurückliegt, sieht Projektleiterin und Berufsbildnerin Anna Stadler (28) als Vorteil. Bild: Franziska Hidber

Leute. Die Zukunft lag so klar vor ihr wie eine frisch geputzte Glasscheibe. Anna Stadler würde das Gymnasium besuchen, die Matura machen, studieren. Doch dann sei es «ganz blöd» gelaufen, erzählt sie im Znüniraum der Schreinerei Thalmann in Neuhausen SH und lacht schallend.

Ein Kollege hatte bereits eine Schnupperlehre in einer Schreinerei vereinbart, wollte sie aber nicht antreten. Anna sprang spontan ein und war vom ersten Tag an fasziniert. «Ich erinnere mich, wie ich beim Montieren einer Bar in Schaffhausen helfen durfte und jedes Mal, wenn ich mit Freunden an jener Bar vorbeikam, voller Stolz sagen konnte: ‹Schau mal, das habe ich gemacht.›» Das beständige Resultat der eigenen Arbeit zu sehen, hat ihr so sehr gefallen, dass sie nach dieser einen Woche verkündete: «Ad Kanti gang i nöd.» Stattdessen absolvierte sie die Schreinerlehre. Den Beruf hatte sie ursprünglich gar nicht auf dem Radar gehabt, gesteht sie: «Ich ging zwar lieber ins Werken als ‹i d’Handzgi›, aber damit hatte es sich auch schon.» Heute, über ein Jahrzehnt später, ist die 28-Jährige noch immer glücklich über ihre Berufswahl. Ihren Wissensdurst und die Lust auf neue Herausforderungen hat sie auf eine andere Art gestillt. Mit Siebenmeilenstiefeln schritt die junge Schreinerin mit Berufsmatura voran und absolvierte Weiterbildung um Weiterbildung: Fertigungsspezialistin, Berufsbildnerin, Oberflächenspezialistin, Projektleiterin.

«Die jungen Leute sind die Zukunft unseres Berufes. Wenn wir uns dafür keine Zeit nehmen wollen, wofür dann?»

 

Zwar ist sie nun seltener in der Werkstatt und öfter am Computer im hellen Büro anzutreffen, durch das sich das Efeu windet wie im Dschungel. Aber: «Ich kann ein Projekt vom ersten Gespräch mit dem Kunden bis zum Abschluss begleiten.» Sie möge es, den Überblick übers Ganze zu haben, statt nur einen Schritt auszuführen. Daneben ist sie als Berufsbildnerin für die drei Lernenden im Betrieb zuständig. Das ist für sie kein Job, sondern eine Herzenssache: «Die jungen Leute sind die Zukunft unseres Berufes. Wenn wir uns dafür keine Zeit nehmen wollen, wofür dann?» Der fehlende Nachwuchs im Kanton Schaffhausen bereitet ihr Kopfzerbrechen. «Aktuell sind in einer Klasse noch sieben Lehrende, vor zehn Jahren waren es doppelt so viele.» Umso glücklicher ist sie über ihr «Trio» – und dass bereits die Zusage einer Lehrtochter für 2023 vorliegt. Junge Leute durch die Lehre zu begleiten, erfüllt die Schaffhauserin. «Meine eigene Lehrzeit liegt noch nicht so lange zurück, für mich ist das ein Vorteil.» Wenn ein Lehrling mal über die Stränge schlägt, sage sie sich: «Du warst damals auch nicht besser!» Das Wichtigste sei, Unterstützung und ein offenes Ohr anzubieten, die Beziehung zu pflegen und gleichzeitig selbstbewusst und bestimmt aufzutreten: «Jugendliche wollen die Grenzen ausloten, das ist ganz normal.» Die Beziehung untereinander, im 12-köpfigen Team, ist für sie der wichtigste Punkt: «Wenn das Zwischenmenschliche nicht stimmt, wird es schwierig – da kann das Aufgabengebiet noch so toll sein.» Es ist ein Thema, das sie gerne vertiefen würde. Psychologie würde sie interessieren. «Das wäre hilfreich, schliesslich treffen in einer Schreinerei unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander, die zusammen funktionieren und eine Lösung finden müssen.» Doch im Moment sind ihre Tage auch ohne Weiterbildung voll.

Mit ihrem Freund – auch ein Schreiner – baut sie gerade das gemeinsame Haus um. Und da gibt es noch ihre beiden Pferde. Denn selbst ein Energiebündel wie Anna Stadler braucht mal Entspannung. «Dann schwinge ich mich in den Sattel. Meine Rössli sind der beste Ausgleich zum Beruf und Umbau.»

Franziska Hidber

Veröffentlichung: 12. Dezember 2022 / Ausgabe 49/2022

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