Ein Engagement, das bewegt

Christof Jeker (34)unternimmt mit seiner beinahe blinden Kollegin anspruchsvolle Tandemtouren bei jeder Jahreszeit - wie hier mit Spikes auf dem Gurnigelpass. Bild: PD

Er fährt in der Dämmerung los und radelt 21 Stunden am Stück bis tief in die Nacht hinein. Er besteigt das 4274 m hohe Finsteraarhorn, oder er packt seinen Biwaksack und verbringt ein paar Tage bei einem Gletscher bei Temperaturen von minus 10 Grad, um dessen Eisstrukturen zu fotografieren. In der Natur wird Christof Jeker kreativ. Ein spezielles Engagement, das ihn bis heute begleitet und bewegt, fand seinen Anfang vor einem Jahr. Ruth sieht lediglich einen kleinen Ausschnitt von der Welt. Sie hat aufgrund einer Hirnblutung bei der Geburt eine Sehbehinderung. Hinzu kommen Einschränkungen des Bewegungsapparats. Die Fortbewegung verlangt ihr viel Energie und Konzentration ab. «Ruths Mutter sagte mir, dass ihre Tochter gerne Tandemvelo fahren würde, weil ihre Einschränkungen dort sekundär werden.» Jeker renovierte ihr altes Tandem, und im Mai 2020 trafen sich die beiden für ihre erste Tour. Obwohl es Bindfäden regnete, fuhren sie gute 30 km. Danach steigerten sie die Kilometerzahl, und auf der siebten Tour radelten sie bereits gemeinsam über den Brünig bis nach Luzern. «Ruth war überglücklich, als sie die ersten 100 km geschafft hatte. Und sie wollte mehr.»

Die beiden treffen sich zwei Mal im Monat – auch im Winter. So haben sie beispielsweise bei minus 5 Grad 1400 Höhenmeter mit Spikes zurückgelegt, um vom Gurnigelpass aus die Gantrischkette oder «das Himalaya-Massiv von Bern», wie es Jeker scherzhaft bezeichnet, zu sehen. Er plant die gemeinsamen Ausflüge sehr akribisch und hat immer einen Plan B im Köcher, sollte es einmal nicht mehr weitergehen. So weit kam es jedoch nie. «Eine Tour sollte immer ein Highlight enthalten. Einen höchsten Punkt, ein tolles Panorama oder ein gemütliches Restaurant», findet der gelernte Schreiner, der als Vertriebsleiter bei der Triviso AG arbeitet. «Ich möchte Ruth positive Erlebnisse bereiten. Denn anstrengende Momente gibt es in ihrem Alltag genügend.» Ruth vertraut ihm blind – im wortwörtlichen Sinn. Kürzlich haben die beiden auf 1150 km und 13 600 Höhenmeter angestossen. «Ich habe das Privileg, mich frei und ohne Einschränkungen bewegen zu können. Dank dem Tandem ist dies für Ruth zwei Mal im Monat möglich», sagt Jeker. «Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass es Menschen gibt, die glücklich wären, wenn wir ihnen ein wenig von unserer Zeit schenken würden. Mit kleinen Gesten kann man Grosses bewirken.» Die Lebensfreude, die Ruth beim Tandemfahren ausstrahle, sei unbeschreiblich. «Sie steht heute anders auf ihren Beinen, hat an Selbstbewusstsein gewonnen und kann mit Stolz von ihren eigenen Abenteuern berichten», sagt Jeker. «Sie muss so viele Dinge meistern, die für uns selbstverständlich sind.» Mit ihr verbinde ihn eine einzigartige und von tiefem Vertrauen geprägte Beziehung. «Ruth hat mir gezeigt, dass mit der richtigen Unterstützung Unmögliches möglich wird – entgegen allen Einschränkungen und Vorurteilen.»

Im Sommer ist die erste zweitägige Tour geplant. Jeker kann sich vorstellen, später einmal mit ihr bis ans Meer zu radeln. «Wir gehen immer weiter. Schritt für Schritt. In Ruths Tempo.» Der Berner hat für sie eine Überraschung bereit. Er wird sich ein neues, ergonomischeres Tandem anschaffen. «Unsere Touren auf dem Tandem verleihen ihr ein Gefühl der Freiheit, und das möchte ich ihr schenken. Denn ihre Freude und ihre Erfolge machen auch mich glücklich.»

«Ruth hat mir gezeigt, dass mit der richtigen Unterstützung Unmögliches möglich wird.»

Caroline Schneider

Veröffentlichung: 24. Juni 2021 / Ausgabe 26/2021

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