Ein Weg auf verschlungenen Pfaden

Künstler Lionel Umbricht (25) hat das Malen und das Sprayen für sich entdeckt. Bild: Enya Müller

«Die Schreinerlehre ist eine gute Lebensschule, sie macht dich lebenstauglich», sagt Lionel Umbricht. Eine Aussage, die kaum erstaunen würde, käme sie von einem gestandenen Schreiner. Aber Lionel ist jung, 25 Jahre erst. Und doch: Er hat schon so viel Verschiedenes ausprobiert, gelernt, erfahren und erlebt wie andere in einem ganzen Berufsleben nicht. Wenn er davon erzählt, sieht die Zuhörerin einen aufregenden, verschlungenen Pfad vor sich, mit bunten Farbtupfern links und rechts und mittendrin den Ostschweizer, unterwegs mit einem wachen Blick für alles, was dieser Pfad zu bieten hat. Das Bild passt, weil Bewegung darin ist – wie auch beim Schreinern. «Mir war schon in der Sekundarschule klar, dass ich einen körperlichen Beruf brauche», sagt Umbricht. Ausgestattet mit einer beachtlichen Energie, fiel ihm in der Schule das Stillsitzen schwer. Die Lehrzeit kam ihm entgegen. Dem Beruf blieb er trotzdem nicht treu, abgesehen von einigen Temporäreinsätzen sowie Schreiner- und Renovationsarbeiten auf selbstständiger Basis. Neugierig auf die Vielfalt des Lebens, absolvierte er einen Teil des Zivildienstes an der Heilpädagogischen Schule St. Gallen, den zweiten im Botanischen Garten. Eine «sehr coole Arbeit», schwärmt er, ohne Termindruck, ständig draussen, eine intensive körperliche Tätigkeit ganz nach seinem Geschmack. Hätte er die verlangte Ausbildung zum Gärtner gehabt, wäre er wohl geblieben. So aber zog er weiter, bereiste den Balkan, lebte auf einer Insel in Kroatien, wo die Zeit stehengeblieben zu sein schien.

Zurück in der Schweiz, schlug Umbricht auf seinem Pfad die nächste Kurve ein und landete im «Schwarzen Engel», einer genossenschaftlich organisierten Beiz in St. Gallen. «Ich war der Mann für alles – servierte, führte den Betrieb, stellte Leute ein, leitete Sitzungen, organisierte Partys, Konzerte und Kunstausstellungen.» So auch seine eigene. Womit die Geschichte bei jenem Teil des Pfads angekommen ist, für den sein Herz heute brennt: die bildnerische Kunst. «Sie war für mich lange kein Thema, obwohl meine Mutter Kunstlehrerin ist und meine Schwester bildende Kunst studiert. Ich war in der Musik zu Hause.» Bis zu jenem Tag, als er für eine befreundete Malerin einen Container mit MDF-Platten ausgekleidet hat. Während er ihr beim Malen zuschaute, sagte sie plötzlich: «Mach doch auch mit.» Umbricht geriet in einen veritablen Malrausch. Später kam das Sprayen dazu. Es folgte die erste Ausstellung – im «Engel». Aufträge trudelten ein, für Private, aber auch für Institutionen.

Auf seinen Reisen hinterliess er bunte Spuren, brachte Farbe auf öde Betonwände. «Beim Sprayen kann ich etwas ausdrücken, ohne Vorgaben. Der Output dabei ist mega – ich bin während Stunden komplett in einer anderen Welt», fasst er seine Passion in Worte.

Ein Tag sprayen sei ähnlich streng wie ein Tag schreinern. Und noch eine Gemeinsamkeit sieht Umbricht: «Sauber abdecken und abkleben ist ein Muss, da hatte ich als Schreiner natürlich Vorteile.» Bereits ist er auf der nächsten Strecke seines Pfads unterwegs: als Kunststudent an der Hochschule Luzern. Daneben macht er Tattoos, Installationen, führt Mal- und Sprayaufträge aus. Mit seinem jüngsten Projekt rückt er wieder näher zum Schreinerberuf: Für das Pianohaus St. Gallen gestaltet er alte Klaviergehäuse neu.

Doch egal, bei welcher seiner vielen Tätigkeiten, für den Allrounder ist klar: «Im Prinzip geht es immer darum, eine Lösung für eine Aufgabe zu finden. Das ist es, was ich in der Schreinerlehre gelernt habe.» Und nun macht seine Aussage über die Lebensschule plötzlich Sinn – 25 Jahre hin oder her.

«Beim Sprayen kann ich etwas ausdrücken, ohne Vorgaben. Der Output dabei ist mega.»

Franziska Hidber

Veröffentlichung: 18. März 2021 / Ausgabe 12/2021

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