«Ich darf, ich muss nichts mehr»

Hans Berger (74), gelernter Schreiner und Bergführer, war Treiber und Initiator der 90 Meter langen Salbitbrücke im Göschenertal. Bild: Caroline Schneider

Leute. Hans Berger sitzt am Esstisch seines Zuhauses mit den grossen Fenstern und studiert das Kartenmaterial, welches vor ihm liegt.

Der 74-jährige Bergführer aus Olten SO denkt noch lange nicht daran, aufzuhören. «Über ein halbes Jahrhundert schon begleite ich Menschen in die Berge und bin immer noch nicht müde.» Nach dem Grund gefragt, weshalb er als 23-jähriger Schreiner auf Bergführer umgesattelt habe, antwortet Hans Berger: «Mir ist es am wohlsten draussen in der Natur.» Er brauche Weite, Luft, Freiheit und Horizonte. Und dann fügt er schmunzelnd hinzu: «Ich habe einen phänomenalen Orientierungssinn in den Bergen. Aber in der Stadt verirre ich mich, weil mir ein Berg oder Bergzug als Orientierungspunkt fehlt.» Während seiner langjährigen Tätigkeit als Bergführer hat sich vieles verändert. Die Technik, die Natur und die Gäste. «In meiner Anfangszeit gab es noch kein Lawinenbulletin. Als Bergführer musst du schnell und situativ Entscheidungen fällen. Ich höre oft auf mein Bauchgefühl.» Er finde es jedoch schwierig, Angst und Bauchgefühl auseinanderzuhalten. Ein Bergführer nehme viel Verantwortung und Risiko auf sich. Deshalb stützt sich ein Bergführer oft auf den Mechanismus der Verdrängung. «Man darf nicht ständig daran denken, was alles geschehen kann, falls ein Gast stürzt.» Trotz der Belastungen, die dieser Beruf mit sich bringt: Hans Berger ist leidenschaftlicher Bergführer geblieben. «Aus langjährigen Gästen sind Freunde geworden.» Ein Mann aus Hamburg ging über 30 Jahre mit ihm «z’Berg». Ein anderer schrieb ihm zwei Tage vor seinem Tod einen Abschiedsbrief.

«Die heutigen Gäste sind sensationshungrig. Vom Leistungsgedanken und der Konsumationswut getrieben. Früher wartete man auf der Hütte auf besseres Wetter. Diese Geduld bringen die Menschen heute kaum mehr mit.» Als es noch keine Mobilgeräte gab, las man die Zeichen der Natur. Hat es Abend- oder Morgenrot, hat es viel Tau? Man beobachtete das Verhalten der Tiere. Fressen die Rehe am Nachmittag an der Sonne Gras, ist Regen wahrscheinlich. «Wir haben die Verbindung zur Natur verloren.» Ihn schmerze es, all die Veränderungen in der Natur zu sehen. Nebst dem Gletscherschwund, nehme er auch viele Veränderungen in Flora und Fauna wahr. So sei die Waldgrenze heute 200 Meter höher als früher. «Heute verteile ich den Gästen Mückenspray auf 2100 Metern.» Hans Berger war 34 Jahre lang Hüttenwart auf der Salbithütte. Ohne ihn gäbe es die imposante Salbit-Hängebrücke nicht, die der Region Aufschwung verlieh. Seit 2009 überquert die 90 Meter lange Brücke das gewaltige Tobel der «Stotzig Chäle» und verbindet die beiden SAC-Hütten Salbit und Voralp miteinander. In seiner Zeit als Hüttenwart hat er gegen 60 Kletterrouten in der Umgebung installiert.

Hans Berger erlitt in seinem Leben manch schweren Schicksalsschlag. Als er 10-jährig war, starb sein Vater. Er wuchs bei einer Pflegfamilie auf. Später als Bergführer verlor er seine Frau auf einer geführten Skitour. Sie geriet in ein Schneebrett und schlug sich den Kopf am Stein auf. Sein Schmerz und seine Schuldgefühle trugen ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung. Doch die gemeinsame, damals achtmonatige Tochter hielt ihn im Leben zurück. Trotz Schicksalsschlägen: Hans Berger strahlt pure Lebensfreude aus. Er hat keine Mühe mit dem Älterwerden. Grössere Touren wie früher bietet er nicht mehr an. Sein Motto: «Ich darf, ich muss nichts mehr.»

Caroline Schneider

Veröffentlichung: 17. Oktober 2022 / Ausgabe 41/2022

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