Lebenskapitel im Lehrlingshaus

Jan Harbott (36) leitet in Samedan das Oberengadiner Lehrlingshaus mit grosser sozialer Kompetenz. Bild: Beatrix Bächtold

Seit 2019 leitet Jan Harbott das Oberengadiner Lehrlingshaus in Samedan GR. 1968 von der benachbarten Oberengadiner Lehrwerkstatt ins Leben gerufen, steht diese betreute Wohngelegenheit mit Verpflegung für Jugendliche in Berufsausbildung offen. Momentan leben hier 60 Lernende fast aller Berufsrichtungen. Rund ein Drittel von ihnen sind angehende Schreiner. «In den dünn besiedelten Seitentälern des Oberengadins gibt es wenige Betriebe, die ausbilden», sagt Harbott. Als Beispiel berichtet er von einem jungen Mann aus dem Puschlav, der im abgelegenen Bündner Südtal keinen Ausbildungsplatz fand, jetzt nebenan in der Lehrwerkstatt seine Schreinerlehre macht, hier im Lehrlingshaus wohnt und am Wochenende seine Eltern besucht. Auch Harbott lernte ursprünglich Schreiner. Das hölzerne Gen erbte er von seinem Vater, der Antiquitäten restaurierte. Als Teenager habe er sich bei ihm ein wenig Taschengeld dazu verdient. Vermutlich stand aber das Finanzielle gar nicht so im Vordergrund, denn wenn der 36-Jährige heute davon erzählt, gerät er sofort ins Schwärmen von der Wertigkeit und Nachhaltigkeit dieser hölzernen Zeitzeugen. «Lackiert mit Schellack und zusammengefügt mit einfachen Verbindungen überlebten sie Kriege und Krisen. Nachhaltiger geht es nicht mehr.» Harbott erwarb später die Berufsmaturität und studierte soziale Arbeit. Mit der Kombination von Handwerk und Sozialarbeit punktete er bei seiner Bewerbung um den Job als Leiter des Lehrlingshauses.

«Als Sozialarbeiter bin ich hier bei den Jugendlichen Ansprechperson bei den verschiedenen Fragestellungen. Als Schreiner habe ich zuerst einmal die Anerkennung, das Vertrauen und damit auch den direkten Draht zu den Bewohnern», berichtet er. Harbotts Berufsalltag umfasst weit mehr als nur Papierkram und Organisatorisches. Er wird auch gerne als Vertrauensperson zurate gezogen. «Private Probleme, Freizeitgestaltung, Berufliches – langweilig wird es nie», sagt er. Dank seinem handwerklichen Geschick, seinem klaren und fairen Umgang mit den Menschen und auch dank ein bisschen Mut ist Harbott schon weit herumgekommen. «Ecuador, Peru, Bolivien, Argentinien, Uruguay und Brasilien. Das gab mir Zufriedenheit und einen grossen Horizont.» Wenn er dann noch erzählt, dass er mehrere Monate in Kolumbien in einem Unternehmen gearbeitet hat, das Bretter fürs Kitesurfen herstellte, wird klar, woher dieser Mann seine Anpassungsfähigkeit und Gelassenheit nimmt. «Vormittags in der Werkstatt, nachmittags ging es hinaus auf den Stausee. In den Anden herrschte auf 1600 Metern Höhe eine ähnliche Thermik wie im Engadin», erzählt er. Für Harbott hat jeder Mensch seine Lebensgeschichte. «Das kann ein Thriller sein oder auch ein langweiliger Schmöker. In meinem Fall ist es ein Abenteuerroman. ‹Mit dem Hut in der Hand, kommt man durchs ganze Land›, könnte der Titel lauten», philosophiert er. Und dann erklärt er, dass er oft ohne gross nachzudenken die Chance auf ein Abenteuer gepackt hat.

«Ich habe immer in mich reingehört, um herauszufinden, welche Arbeit ich gerne machen möchte und wie mein Alltag aussehen könnte, damit ich zufrieden bin», sagt er, schaut zum Fenster hinaus auf den schneebedeckten Piz Palü und fügt hinzu: «Im Moment hab ich das Gefühl, angekommen zu sein. Eine Reise mit einer Art Wohnmobil würde mich aber schon noch reizen.» Das Lebensbuch Jan Harbotts scheint noch einige ungeschriebene Kapitel zu haben.

«Als Schreiner habe ich zuerst einmal die Anerkennung, das Vertrauen und damit auch den direkten Draht zu den Bewohnern.»

beb

Veröffentlichung: 25. Juni 2020 / Ausgabe 26/2020

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