«Man muss leidensfähig sein»

Bruno Wermelinger (54) hat das Alpvirus gepackt. Bereits fünf Mal verbrachte er den Sommer als Senn auf einer Alp. Bild: PD

Leute. Bruno Wermelinger absolvierte heuer seinen fünften Alpsommer. Der gelernte Schreiner ist als Bauernsohn aufgewachsen. «Ich trug den Wunsch nach einer Alpzyt schon lange mit mir herum», sagt er.

Die Sehnsucht breitete sich immer stärker in ihm aus und so kündete er mit 47 Jahren seinen damaligen Job ohne Gedanken an die Zeit danach. Im Internet suchte er sich die Alp Les Coques auf dem Col des Mosses VD aus. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Eindruck: «Die Begrüssung war distanziert und der Betrieb wirkte auf mich unordentlich und chaotisch. Ich wäre am liebsten wieder gegangen», erzählt er und lacht. Doch als er mit dem Älplerpaar ins Gespräch kam, merkte er sofort, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. «Sie waren voller Herzlichkeit und Leidenschaft für ihren Betrieb.» Wermelinger kümmerte sich um 33 Kühe, molk, stellte Käse her, holzte, brachte Heu ein, pflegte die Weiden. «Ich fühlte mich wertgeschätzt und wurde schnell ein Teil der Familie.» Von morgens um 5 bis abends um 19 Uhr dauerten seine Arbeitstage, manchmal sogar länger. Obwohl es körperlich streng war, packte den Flachländer aus Gersau SZ das Alpvirus. Es folgten drei Alpsommer auf der Eggenalp, einem Biobetrieb in Zweisimmen BE. «Auf einem Biobetrieb ist die Einstellung zur Natur spürbar anders. Der Umgang mit Tier und Natur ist noch acht- und aufmerksamer», erzählt er. Handarbeit war angesagt. «Da Chemikalien auf einem Biohof verboten sind, haben wir von Hand Disteln oder Blacken ausgestochen sowie Dornen und Gebüsch abgemäht. Die Arbeit ist uns nie ausgegangen.» Der Biobauer wandte Homöopathie an bei seinen Tieren. «Er spürte schon zum Voraus, wenn ein Tier zu schwächeln begann.»

Jeweils drei bis vier Monate verbringt Wermelinger auf der Alp. Den Rest des Jahres ist der 54-Jährige bei der Obrist Interior AG in Inwil LU als Schreiner tätig. Auf der Alp arbeitet er viel mehr und verdient einiges weniger als in seinem angestammten Job. Manche fragen ihn deshalb, weshalb er sich das antue. «Es gibt mir eine tiefe Befriedigung. Ich habe Freude, mit den Tieren zu arbeiten. Ich spüre die Natur so unmittelbar dort oben. Für den Älplerjob muss man leidensfähig sein. Oft haben die Leute eine falsche Vorstellung von diesem Job. Entweder überschätzen sie sich oder sie unterschätzen die Arbeit.» Bergbauern seien mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Es sei schwierig, Arbeitskräfte zu finden. Wildtiere wie der Wolf oder der Luchs seien eine Bedrohung für die Herden. Und auch die Klimaextreme machten den Älplern zu schaffen. Mal sei es zu nass, mal zu trocken. Trockene Sommer führten dazu, dass manche Alpbetriebe ihre Gastkühe frühzeitig ins Tal bringen müssten, weil zu wenig Gras vorhanden sei. Oder sie trennen sich vom Vieh, weil der Vorrat für den Winter nicht ausreiche. Fehlende Beiträge, weniger Milch oder Käse drückten dann auf die finanzielle Situation.

Wermelinger erinnert sich an eine herzzerreissende Szene. «Auch mein Betrieb musste widerwillig zwei Kühe weggeben. Die Familie stand da mit Tränen in den Augen und sah dem Lastwagen nach, der ihre beiden Kühe zum Schlachthof brachte.» Ihre Kühe seien nicht bloss Nutztiere, sondern Lebewesen mit Herz und Seele. Wermelinger ist seinem Arbeitgeber für all diese berührenden Erlebnisse auf der Alp sehr dankbar.

«Es ist nicht selbstverständlich, dass eine Firma solche Auszeiten ermöglicht.» Diesen Sommer verbrachte er auf der Alp Obsaum im Urner Schächental. «Mein Arbeitsteam hat mich sogar auf der Alp besucht.» Für nächsten Sommer ist noch alles offen. Die Karten werden neu gemischt.

«Das Älplerleben gibt mir eine tiefe Befriedigung. Ich spüre die Natur so unmittelbar.»

Caroline Schneider

Veröffentlichung: 28. November 2022 / Ausgabe 47/2022

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