«Mein Sonntag ist der Mittwoch»

Als Mesmer kann Werner Häne (55) oft auf sein Schreiner-wissen zurückgreifen, wie bei der Adventsdekoration für die Kirche Wattwil SG. Bild: Franziska Hidber

Die Kirchenbänke sind verlassen, nur der Blumenschmuck erzählt von einem vergangenen Anlass, jemand übt ein Orgelstück. Sonst ist es still an jenem Dienstagvormittag in der reformierten Kirche Wattwil SG, dem Arbeitsplatz von Werner Häne. Der 55-Jährige hat Zeit für ein Interview, die Zusage kam kurzfristig und hing davon ab, ob eine Beerdigung ansteht oder nicht. Seit gut eineinhalb Jahren ist der ausgebildete Schreiner jetzt als Mesmer im Amt, und dabei hat er eines gelernt: «Jede Woche ist anders und wirft meine Pläne wieder über den Haufen», sagt er und fügt gleich an: «Dafür wird es nie langweilig.» Kein Wunder, bei dieser Vielfalt an Aufgaben: Der Wattwiler ist nebst der Kirche für fünf weitere Gebäude als Baupfleger zuständig, bereitet hinter den Kulissen alles für Gottesdienste, Feste, Konzerte, Jugendtreffen oder Versammlungen vor, assistiert an Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen, kümmert sich um defekte Türen, schmutzige Sanitäranlagen und Laubhaufen, prüft, ob das Licht überall funktioniert, baut Dekorationen auf, nimmt an internen Sitzungen teil, schätzt allfällige Reparaturen ein, erledigt die Administration im Büro, zimmert für eine Abendmahlfeier ein spezielles Tablett und, und, und. «Es ist schon vorgekommen, dass am Freitag eine Beerdigung, am Samstag eine Hochzeit und am Sonntag eine Taufe war», erzählt er. «Als Mesmer erlebe ich Freud und Leid in der Kirchgemeinde hautnah mit.»

Vorher, an seiner langjährigen Stelle in der Planung jenes Schreinereibetriebs, in der er schon seine Lehre absolviert hatte, spielten Gefühle keine so grosse Rolle. Die Arbeit für die reformierte Kirchgemeinde Mittleres Toggenburg hingegen gehe tiefer, besonders bei Todesfällen. Zum Beispiel, wenn er Angehörige zum Aufbahrungsraum begleite: «Viele sind froh, wenn sie in diesem Augenblick nicht allein mit der verstorbenen Person sind. Dann zünde ich eine Kerze an, bleibe bei ihnen.» Bei der Beisetzung gehört es zu seinen Aufgaben, den Sarg auf einem Wagen zum Grab zu ziehen – eine Tradition in Wattwil. Die meisten, die hier beerdigt werden, hat Häne persönlich gekannt. Der Bauernsohn ist im Toggenburger Dorf aufgewachsen. Umso schwieriger sei es, stets gefasst und professionell zu bleiben: «Manchmal friert es mich regelrecht.» In diesen Situationen ist er froh, wenn er nach dem Gottesdienst ein paar Worte mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer wechseln kann. Auch wenn seine Tage manchmal lang sind und er immer wieder bei seinem Tun unterbrochen wird, weil irgendjemand in der Tür erscheint und fragt: «Du, Werner, chönntisch du no …» In die Privatwirtschaft zurück möchte er nicht mehr. Und das, obwohl er als Mesmer nur noch ein Wochenende im Monat frei hat. Er lacht: «Mein Sonntag ist jetzt der Mittwoch.»

Offiziell hat er zwar auch am Samstag- und Sonntagnachmittag keinen Dienst, doch finden dann Anlässe statt, macht sich der Mesmer am Abend auf den Weg zur Kirche, schaut, dass für den Gottesdienst am nächsten Tag alles in Ordnung ist, schliesst die Tür. Sagen die Leute: «Werner, heute hat es wieder schön ausgesehen in der Kirche», sei der Abendeinsatz schnell vergessen. «Es kommt sehr viel zurück», sagt er und zeigt die vier Holztürme mit Sternen, die er extra für den Advent gefertigt hat. An jedem Adventssonntag leuchteten mehr Sterne vorne in der Kirche. «Das kam sehr gut an, und viele wollten eine Bestellung bei mir aufgeben.»

Doch dafür sei er zu ausgebucht, sagt er. Und schon klingelt sein Handy wieder, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Tür sich öffnet und jemand fragt: «Du, Werner, chönntisch du no …»

«Als Mesmer erlebe ich Freud und Leid in der Kirchgemeinde hautnah mit.»

hid

Veröffentlichung: 20. Juni 2019 / Ausgabe 25/2019

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