Schnell, aber sicher unterwegs

Wenig bringt Velokuriere besser voran als zwischendurch eine Pause. Das weiss der gelernte Schreiner Paul «Bilu» Sterchi (33) aus eigener Erfahrung.

Mit ein wenig Stolz streift Paul Sterchi das rot-schwarze Leibchen über. «Velokurier» ist in weissen Lettern darauf geschrieben. Er klemmt den Helm unter den linken und die Kuriertasche mit Klettverschluss unter den rechten Arm. Seine Freundin sitzt noch in der Küche und rührt kleine Kreise in der Kaffeetasse, während der fünfzehn Monate alte Nils auf ihrem Arm schläft. Aus dem Radio plätschert Morgenmusik. Ein Abschiedskuss, dann tippelt Paul «Bilu» Sterchi mit seinen Fahrradschuhen die Treppe hinunter. Im Keller reihen sich seine fünf Räder nebeneinander auf – neben all den anderen, die den Nachbarn gehören. Jetzt muss er das richtige heraushieven, ohne dass es sich mit den andern verkeilt. Weil es leicht nieselt, entscheidet er sich an jenem Herbsttag für den «Regenhobel», das neue Fahrrad mit den Scheibenbremsen. Sterchi fährt nie ohne Helm los. Als Papi trage er seiner Familie gegenüber eine Verantwortung. Ausserdem würde die Versicherung bei einem Unfall nicht alle Kosten übernehmen. Das war bei Sterchi bislang glücklicherweise auch nicht nötig. Von Liebefeld, wo der 33-Jährige mit seiner Familie wohnt, braucht er ziemlich genau sieben Minuten bis in die Stadt. Das sind knapp vier Kilometer. Eigentlich gehört der Vorort zur Stadt Bern, hat aber eine andere Postleitzahl, erklärt der Velokurier mit einem Lachen. Mit den Kurierfahrten hat er begonnen, als er an der Fachhochschule das Studium in sozialer Arbeit aufgenommen hat. Ein guter Ausgleich. Auf dem Velo habe er über die komplizierten Dinge nachdenken können, welche die Dozenten in der Vorlesung erklärt hatten.

Auf der Strasse fühlt sich Sterchi sicher: «Kurierfahrten sind nicht gefährlicher als andere Jobs.» Ein Schreiner müsse schliesslich auch aufpassen, dass er sich mit der Kreissäge nicht die Finger wegfräse. Damit wählt er kein zufälliges Beispiel, denn er hat einst selber eine Schreinerlehre abgeschlossen; in einem kleinen Familienbetrieb, geführt von einem strengen Patron. Heute lacht er darüber: «Als Lehrling musste ich anfangs unten durch.» Es war sein Lehrstück. Auf der Strasse macht ihm keiner so schnell etwas vor. Kopfhörer hat er keine drin. Er braucht alle fünf Sinne. So reiht er sich im Verkehr ein, überholt links, dann rechts und zirkelt geschickt zwischen der Kolonne hindurch. Mit den Auto- und Busfahrern sucht er immer den Augenkontakt, so kann er ihr Verhalten abschätzen. Als Sozialarbeiter schätzt er dagegen ab, wie und wann die von ihm betreuten Personen wieder am Leben teilnehmen können. In seinem Zweitjob, der immer mehr Zeit einnimmt, betreut er Männer und Frauen mit zerrütteten Biografien, die Drogen genommen haben oder von einem Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen worden sind. Er gibt ihnen Struktur, hilft ihnen auch, eine Stelle zu suchen. «Es ist spannend, wie bereits kleine Dinge ein Leben verändern können», sagt Sterchi. Wie nasse Blätter auf den Tramgeleisen: Plötzlich rutscht man weg.

Das feuchte Laub umfährt er jedoch geschickt und erreicht bald darauf seinen ersten Kunden. Er steigt ab, stellt sein Rad vor das graue Haus und klingelt. Wahrscheinlich bald zum letzten Mal. «Ich werde längerfristig nicht mehr Kurier fahren», sagt er etwas wehmütg. Die Familie und die Sozialarbeit werden mehr Platz in seinem Leben einnehmen.

«Es ist spannend, wie bereits kleine Dinge ein Leben verändern können.»

dw

Veröffentlichung: 13. November 2014 / Ausgabe 46/2014

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