Wie ein Krieger der Antike

Der 26-jährige Schreiner Andreas Reichmuth (rechts) ringt seit 14 Jahren und ist Mitglied der Nationalliga A. Bild: Caroline Schneider

Von den Fensterscheiben tropft Kondenswasser. Die Luft in der Turnhalle ist schweissgeschwängert. An der Wand prangert in grosser Schrift der Satz: «Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat verloren.» Es ist Dienstagabend. Rund 20 Ringer des Clubs Willisau sind zum Training gekommen. Darunter auch der 26-jährige Schreiner Andreas Reichmuth. Er ist Mitglied der Nationalliga A. Der Boden bebt. Wie eine Herde aufgeschreckter Antilopen machen die Athleten auf Anpfiff des Trainers einen Kurzsprint durch die Halle. Danach robben sie auf ihren Knien über den Boden, kriechen und krabbeln wie flinke, wendige Zwerge über die Matten. Es folgen Froschhüpfen, Hampelmann, Sprünge und Drehungen um die eigene Achse. Das Ganze wirkt spielerisch. Schnellkraft und Beweglichkeit werden trainiert. Nach dem abwechslungsreichen Einwärmen folgen simulierte Kampfsituationen, in denen Abläufe eintrainiert und automatisiert werden. Reichmuths stahlblaue Augen fokussieren messerscharf den Gegner. Er umfasst seinen Kumpel am Rumpf, wendet ihn flink zur Seite und bringt ihn innert Sekunden mit einem dumpfen Knall und voller Wucht zu Boden. Die Kämpfe muten archaisch an; Ringen gehört zu einer der ältesten Sportarten. Schon in der Antike war das Ringen als Teil des Fünfkampfes eine olympische Disziplin. Von den Techniken her sind Werfen oder Schleudern erlaubt; verboten sind Schläge gegen die Gelenke, Kicken und Klemmen, Würgen oder Beissen. Reichmuth ringt, seit er 12-jährig ist.

Mindestens drei Mal pro Woche trainiert der junge Athlet. Am Wochenende finden oft Wettkämpfe statt. Über das Ringen sagt der Schreiner: «Es gibt mir eine grosse Abwechslung zu meinem Schreiner-Arbeitsalltag. Hier kann ich am besten abschalten.» Aber auch die Kollegialität schätze er und das spürt man.

Die Männer des Ringerclubs Willisau kennen sich von Kindsbeinen an, der Umgang ist herzlich und unkompliziert, die Atmosphäre familiär. Den Titel des Junioren-Schweizermeisters hat der Willisauer bereits zweimal erreicht. 2015 gewann er zusammen mit seinem Team den Titel des Mannschafts-Schweizermeisters. An den Elite-Schweizermeisterschaften hat er den ersten Rang zweimal knapp verpasst. «Mein grösster Traum ist es, Schweizermeister zu werden», sagt Andi, und in seinen blauen Augen erscheint ein Strahlen, als hätte er den Titel bereits gewonnen. Um dieses Ziel zu erreichen, besucht er seit gut einem Jahr einen Mentaltrainer. «Ich lerne, mit Druck und Stresssituationen klarzukommen. Durch gezieltes Atemtraining kann ich mich vor Wettkämpfen besser auf mein Ziel fokussieren und komme zur Ruhe.» Die mentale Arbeit helfe ihm aber auch in Alltagssituationen.

Die nächsten Schweizermeisterschaften stehen im Frühling 2017 an. Es wäre dem sympathischen jungen Mann gegönnt, dass er den Titel des Schweizermeisters erringt. Doch aktuell finden erstmal die Mannschaftsmeisterschaften statt. Dabei schliessen sich die Ringer club- intern zu zehnköpfigen Teams zusammen und ermitteln bis im Dezember in mehreren Wettkämpfen die stärkste Mannschaft.

Reichmuth ist nicht nur ein leidenschaftlicher Ringer, er ist auch leidenschaftlicher Schreiner – genau wie sein Vater. «Bereits als ich in die fünfte Klasse ging, wusste ich, dass ich Schreiner werde», sagt der 26-Jährige. Er schreinert auch in der wenigen freien Zeit, die ihm bleibt, gerne. Etwa eine Garderobe, ein Bett, ein Nachttischchen oder ein Schuhgestell für die gemeinsame Wohnung mit seiner Freundin.

«Durch gezieltes Atemtraining kann ich mich vor Wettkämpfen besser auf mein Ziel fokussieren und komme zur Ruhe.»

cs

Veröffentlichung: 22. September 2016 / Ausgabe 38/2016

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