Zwischen Leistung und Genuss

Liebhaberstücke, wie dieses Teekistchen aus Kirschbaumholz im Wert eines Kleinwagens, wird Hansruedi Ilg (69) auch nach seiner Pen-sionierung anfertigen. Bild: Beatrix Bächtold

Aus dem Radio klingt Musik. Die Limmat funkelt vor dem Fenster wie ein Silberband. Es riecht warm nach Holz und Leim in dieser Werkstatt mitten im pulsierenden Zürich, in welcher der selbstständige Möbelschreiner Hansruedi Ilg bei einer antiken Kommode gerade mit blossen Händen die Polierölreste vom Schellack entfernt. Der Sprit auf dem Poliertuch setzt seinen Händen zu, doch das hat der 69-Jährige ein Leben lang in Kauf genommen. «Mit Handschuhen habe ich kein Gefühl», sagt er, ohne aufzublicken. In diesem Moment könnte die Welt untergehen, der passionierte Handwerker würde es nicht bemerken. Er ist eins geworden mit seinem Werkstück, mit der ganzen Welt. Rund 8000 Franken wird er für die Renovation der Kommode auf die Rechnung schreiben. Im Verhältnis zu den geschundenen Fingern und den investierten Stunden seiner Lebenszeit ein Butterbrot. Jetzt ist der letzte Ölrest entfernt, Hansruedi Ilg erwacht aus seiner Konzentration, blickt auf und putzt sich die Hände mit einem Lappen. Durch die alte Tür geht er hinaus, dreht den Schlüssel und blinzelt in die Frühlingssonne. «Ich kann das», sagt er. Leidenschaftlich «chrampfen», Schlüssel drehen, raus. «Ohne diesen Wechsel, den ich mein Leben lang bewusst immer wieder herbeigeführt habe, hätte ich nicht 60 Jahre lang im Beruf bleiben können.»Ilg ist ein grosser Mann. Nein, kein Muskelpaket und kein Riese. Doch innerlich hat er eine grosse Kraft. Früher war er aktiver Sportler und im Winter stets auf der Skipiste. Bis vor wenigen Jahren habe er noch bis zu 40 Meter weite Sprünge gemacht, erzählt er.In seinen besten Jahren war er Leichtathletik-Trainer beim TV Unterstrass in Zürich und nahm als Jugendtrainer zum Beispiel die Halbmarathon-Schweizer-Meisterin Martina Tresch unter seine Fittiche.Als Sportler sagt er: «Scheitern ist nicht schlimm. Wirklich schlimm ist, dass die meisten aufgeben, bevor sie scheitern. Erst dann, wenn es weh tut, wenn Körper und Geist ihre Grenzen dehnen, macht man Fortschritte.» Ilg hat das selbst ausgetestet – neun Mal lag er sportbedingt auf dem Operationstisch.Neben dem Sport schätzt Ilg auch die Kultur der Zigarre und ist Mitglied der Weinzunft der Brententräger, die seit 1250 besteht und auch heutzutage – in einer Zeit des stetigen Umbruchs der Werte und des fortschreitenden Individualismus – Tradition und Freundschaft pflegt. «Der ganze Kosmos funktioniert doch in allen Dingen und in allem, was man macht, gleich», sagt er und betont, dass Ruhe und Bewegung, Schnelligkeit und Genuss nur gemeinsam Früchte tragen können. «Ein chinesischer Zen-Künstler lässt das Bild mehrere Jahre im Kopf reifen, bevor er es in re- lativ kurzer Zeit malt. Vieles wirkt leicht und hat doch unzählige Stunden gekostet», philosophiert er weiter.1982 hat sich Ilg eine eigene Möbelschreinerei aufgebaut. Möbelrestaurationen und Innenausbau, Stilmöbeldesign und die Entwicklung von Humidoren für edle Zigarren sind seine Spezialität. Bald wird er seinen Betrieb an seine Lehrtochter übergeben, wird aber vermehrt exklusive Stücke anfertigen und diese übers Internet verkaufen. Doch bis dahin sind noch zwei Monate Zeit. Und während er jetzt den Schlüssel dreht, um wieder zu seiner Arbeit zurückzukehren, sagt er: «Gerne würde ich noch 50 Jahre voll arbeiten. Ich bin aber davon überzeugt, dass man alles so behutsam abbauen muss, wie man es aufgebaut hat.»beb

«Gerne würde ich noch 50 Jahre voll arbeiten. Ich bin aber davon überzeugt, dass man alles so behutsam abbauen muss, wie man es aufgebaut hat.»

Veröffentlichung: 11. Mai 2017 / Ausgabe 19/2017

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