Im Herzen der Möbel

Keine Fugen und kein sichtbares Schloss im Glas – so lautete die Vorgabe für diese Schmuckvitrine. Das Resultat: ein Schwenkboden als Verschluss von unten. Bilder (2): Christian Tanner

Spezialanfertigungen.  Weiss der Kunde genau, was er will, ist der Schreiner herausgefordert. Lassen sich keine entsprechenden Beschläge finden, so bleiben zwei Möglichkeiten: Auftrag ablehnen oder den Beschlag gleich selber entwickeln. Drei Designer machen es vor.

Im Zentrum des Möbels steht der Beschlag. Bei den folgenden drei Arbeiten trifft die- se Behauptung zu: einer Schmuckvitrine, einem Regalsystem und einem Massivholzschrank. So unterschiedlich die drei Möbel auch sind, haben sie doch eines gemeinsam: Ihnen liegt ein cleverer Gedanke zugrunde, der wirklich fertig entwickelt wurde.

Ein schmuckes Ding

Mitten in der Basler Altstadt am Rümelinsplatz steht der «Schauraum», das Schmuckatelier von Elia Gilli. Als beim neuen Innenausbau die Gestaltung der Schmuckvitrine zum Thema wurde, war schnell klar, dass sich das Präsentationsmöbel von herkömmlichen Glasvitrinen unterscheiden musste. Elia Gilli entwarf dafür ein Regal aus weissen Kuben. Für die Ausarbeitung der Details vertraute sie dem Schreiner und Gestalter Christian Tanner. Der hatte freie Hand bei der Planung unter folgenden Voraussetzungen: An den Aussenflächen der Vitrine durften keine Nuten sichtbar sein und am Frontglas kein Schloss.

Verschluss und Ausstellungsfläche

Der Lösungsansatz war nun, die Vitrine von unten her zu verschliessen. Um das Öffnen und Schliessen handhaben zu können, konstruierte Christian Tanner einen Boden, der sich absenken lässt – und gleichzeitig als Podest für den präsentierten Schmuck dient. In der länglichen Vitrine platzierte er drei solche Schwenkböden. Die Dreiteilung hat zwei Vorteile: Einerseits ermöglicht sie, dass nicht die gesamte Vitrine geöffnet werden muss, wenn der Kunde sich Schmuck ansehen will – eine Frage der Sicherheit. Andererseits kann damit auf jedem Podest Schmuck in thematischen Gruppen zusammengefasst werden, so dass die Möglichkeit besteht, in einer Vitrine drei unterschiedliche Ausstellungen zu planen. Zum Beispiel: Armschmuck, Halsketten, Uhren. Der Verschluss sieht einfacher aus, als er ist, was für seine Qualität spricht. Dafür steht auch die Tatsache, dass die Vitrine unterdessen bereits einmal demontiert und an neuem Standort wieder zusammengesetzt wurde. Ein Verdienst der eingesetzten Beschläge.

Vereinfachter Mechanismus

In geschlossenem Zustand sieht der Betrachter keine Beschläge. Lediglich an der Unterseite der Schwenkböden steht ein 10 mm-Loch. Durch dieses steckt man den Vierkantschlüssel, mit welchem das integrierte Stangenschloss bewegt wird. Technisch waren gleich mehrere Herausforderungen zu meistern. «Der Schwenkbügel aus Chromstahl ist zwei Mal auf einen Winkel von über 95 Grad abgebogen, damit beim Öffnen eine Bremswirkung entsteht», erklärt Christian Tanner. Auch die Versenkung des Schwenktablars im Korpus hatte es in sich. «Durch den Schwenkradius benötigt der Schwenkboden Funktionsluft von 15 mm», ergänzt Tanner. Damit diese Differenz besonders sichtseitig in einer gleichmässigen Schattenfuge verteilt wird, arbeitete der Gestalter mit einem Doppelfalz sowie einer Grundplatte, vergleichbar mit einem Schub-ladendoppel. Auf dieser befestigte er Montageleisten, welchen er wiederum eine Verschalung aus weiss lackiertem MDF überstülpte. Der ganze Schwenkboden lässt sich nun mithilfe von Frontverstellbeschlägen von Blum in alle Richtungen justieren. Mit diesem Beschlag lassen sich Differenzen von 4 mm ausgleichen.

Knacknuss Vitrine

Auch die Konstrukion der Schmuckvitrine bot so manche Knacknuss. Obwohl durch die Verschalungen äusserlich der Eindruck entsteht, als wäre alles ganz einfach, ist dem nicht so. Das beweist ein Blick hinter die Kulissen, beziehungsweise ein Querschnitt durch die Konstruktion. Die Vitrine hängt an der Rückwand. Diese ist aber geschwächt, weil die vielen Lichtquellen nach einer Entlüftung verlangten. Eine integrierte Stahlstange sorgt deshalb für die Steifigkeit über die ganze Kastenlänge. Ohne sie würde das Gewicht auf die Frontscheibe drücken. Diese wiederum liegt im Falz und wird fixiert durch die Zierverschalung aus 10 mm lackiertem MDF.

www.eliagilli.comwww.mobiliarwerkstatt.chwww.blum.com

Systemmöbel in Perfektion

«Ohne neue Beschläge entsteht kein neues Möbel», behauptet Stefan Irion. Für den Gestalter, der in Winterthur im alten Sulzer-Areal eine Werkstatt, einen Showroom und gleich mehrere Lagerräume bewirtschaftet, ist der Beschlag eine Art Motor im Möbel. Diese Sichtweise ist insofern naheliegend, als dass er vor einigen Jahren noch Präzisions-Fräsmaschinen für den Modellbau entwickelt und vertrieben hat. Aufgrund von gesetzlichen Änderungen wurden die Maschinen aber überflüssig. «Eigentlich nicht die Maschinen an sich», präzisiert er. Der Markt für die Kleinmaschinen hätte noch bestanden, doch unterschieden die neuen Normen nicht zwischen Klein- und Grossmaschinen. Und für die Grossmaschinen galten nun strenge Vorschriften, was enormen Prüfaufwand mit sich gebracht hätte.

Aus Not eine Tugend gemacht

Aus der damaligen Notsituation wuchs ein Regalsystem, das «Regal 1». Die Grundidee dahinter: Das Möbel ist zerlegbar und passt sich damit der jeweiligen Lebenssituation an. Es ist erweiterbar und trotzdem in seinem jeweiligen Zustand abgeschlossen. Irion hat damit bei der Lancierung im Jahr 2000 einen Zeitnerv getroffen, ist er sich sicher. Denn der Bedarf an guten Behältermöbeln war gross und sein Entwurf bot eine Alternative zu USM.

Das «Regal 1» besteht aus Multiplexplatten. Die Böden laufen jeweils durch. Die aufrechten Seitenteile enthalten beidseitig längs durchlaufende Löcher. Durch diese werden sie über Gewindestangen gesteckt und mit dem Spezialbeschlag nach unten gespannt – im Prinzip einer Schraubzwinge. «Das Bohren der Löcher war eine Herausforderung», berichtet er von den Hindernissen, die es anfangs zu überwinden galt. Er übersprang diese, indem er wie beim Tunnelbau von zwei Kanten her bohrte.

Ein zweites Regal

Während sich das «Regal 1» von unten her aufbauen lässt, ist das kürzlich entstandene «Regal 2» seitlich erweiterbar. Erhältlich ist es in sieben verschiedenen Höhen. Die Möbelseiten laufen durch, die Verbindungsbeschläge zeichnen sich aussen ab. Während die Materialstärke bei «Regal 1» gerade mal 21 mm betrug, sind es bei «Regal 2» noch 17 mm. Dafür ist der Multiplex mit Kunstharz belegt. Das erhöht die Stabilität. «Mit dem Kunstharz erreichen wir die statischen Eigenschaften einer 35 mm Spanplatte», verspricht Irion. Zudem würden die Gewinde nicht mehr eingebohrt, sondern vor dem Belegen der Platte einfach eingenutet. Auch die Gewinde selbst sind für das neue Regal redimensioniert worden – von M6 auf M4. Die Türen bestehen aus 4 mm Vollkernplatten. Darin ist ein Rundstab aus Chromstahl eingelassen, welcher den Drehpunkt bildet. Er wird oben und unten in einem Einschraubbeschlag geführt. Dieser ist exzentrisch aufgebaut (siehe Titelseite) . Durch Drehen mithilfe des zweinoppigen Spezialwerkzeugs, lassen sich die Türen richten. Mit einer innenliegenden Madenschraube kann man zudem die Türhöhe einstellen.

www.irion.li

Tradition neu aufgelegt

Für die limitierte Schrankserie «Schatulla» hat der Bündner Architekt und Designer Ramon Zangger extra ein Scharnier aus Chromstahl anfertigen lassen. Dieses erfüllt gleich mehrere Funktionen: Es bildet nicht nur die Verbindung zwischen Möbelseite und Tür, sondern dient gleichzeitig als Gratleiste. Damit werden die massiven Arvenbretter zusammengehalten, so dass diese uneingeschränkt schwinden und quellen können – und nicht krumm werden. Das Besondere am Verbund: Alles wird nur gesteckt. Die Konstruktion benötigt keinerlei Schrauben und ist nicht verleimt. Damit erhält «Schatulla» seine einmalige Optik.

Reich beschlagener Schrank

Obwohl Ramon Zangger den Schrank nicht mehr herstellt, ist das Scharnier weiterhin bei ihm auf Bestellung erhältlich. Die Gratleiste muss gleich nach der Bearbeitung eingesetzt werden. Wartet man zu lange, verzieht sich das Holz bereits so stark, dass der Beschlag nicht mehr passt. Andererseits sind es genau die Eigenschaften des Holzes, welche das Band fixieren. «Weil wir in Graubünden relativ trockene Luft haben, quillt das Holz beim Kunden meist auf», erklärt Zangger.

Dass beim Öffnen der Tür inwendig das Licht angeht, liegt nicht am Scharnier. Dafür sind Infrarotschalter im Sockelbereich zuständig. Unter den runden Filzpuffern an den Schranktüren befindet sich unsichtbar ein Einbohrmagnet. Dieser dient mit einem ebenfalls nicht sichtbaren Eisen am Korpus für satten Verschluss. Das Gegenstück ist an der Vorderkante von oben eingelassen. An dieser Stelle wird der Schrank auch geöffnet. Griffe oder Griffleisten fehlen.

Neues alpines Design

Die Möbel von Ramon Zangger drücken in ihrer Gesamterscheinung vor allem eines aus: ursprüngliches, ehrliches Handwerk. Aus diesem Grund ist die Arve von «Schatulla» unbehandelt. Aussen sind Spuren der Bandsäge sichtbar, die Innenflächen sind maschinenroh, wobei die runden Ornamente beim Fräsen jeweils stehen gelassen werden. Interessant ist die Bedeutung dieser Kreisschläge. «Der Sonnenwirbel ist männlich, das Blumenmuster weiblich», erklärt Ramon Zangger. «Solche Symbole sind erstaunlicherweise nicht nur in Graubünden, sondern in vielen Kulturen unserer Erde zu finden.»

www.ramonzangger.ch

MW

Veröffentlichung: 08. März 2012 / Ausgabe 10/2012

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