Stühle und Truhen für Freigeister

Die Werke des Engadiner Holzbildhauers Reto Grond (47) sind unkonventionell. Bild: Beatrix Bächtold

Vier gerade Beine. Eine gerade Lehne. Seit jeher entsprechen Stühle diesem Bild. Nicht so bei Reto Grond. Der Engadiner Holzbildhauer gewährt seinen Kreationen nämlich die gleiche Freiheit, die er selbst benötigt. So zum Beispiel auch diesem Stuhl. Krumm und schief steht er da, dickköpfig wie sein Bündner Macher. «Ich habe ihn als Wohnskulptur so zusammengefügt, wie er zusammengehört. Keinem Plan und keiner geraden Linie folgend, sondern analog seinen Wachstumslinien im Holz. Er ist einzigartig. Alles schräg. Das ist schön. Heutzutage ist sowieso alles zu gerade», philosophiert der Künstler. Beim genauen Hinsehen erkennt man auch, dass dieser Stuhl nur auf drei seiner vier Beine steht. «Eines hat er schon in der Luft um davonzulaufen», sagt Grond, kratzt sich am Kopf und grinst. Dann erzählt der Künstler vom eigenen Drang, sich weiterzuentwickeln. Er ist überzeugt von der Notwendigkeit, beim Stehenbleiben die Gedanken frei fliegen zu lassen. «Immer ein Bein in der Luft. Bereit, abzuheben in der Gewissheit, dass einen die Luft schon tragen wird», umschreibt er dieses Urvertrauen. Er arbeitet viel draussen, weil ihm die Decke seines Ateliers einfach zu niedrig ist.

Aufgewachsen am Waldrand in Samedan, einem der kältesten Orte der Schweiz, liebt Grond die Natur, auch wenn sie noch so stürmisch ist. «Im Winter minus 30 Grad. Da spürt man das Leben», sagt der 47-Jährige. Und so zieht es ihn gerade dann auf die Piste, wenn alle anderen in der Stube hocken. Wenn der Sturm die Nebelschwaden peitscht und man kaum mehr die Hand vor den Augen erkennt, packt er seine Skier. «Wenn man nur noch Weiss sieht, muss man mit allen Sinnen fokussieren. Wo ist oben, wo ist unten, wo muss ich hin? Im Leben ist das ähnlich», sagt er.

Bei seinen Wohnskulpturen betonen die Kerben der Kettensäge die Ursprünglichkeit des Materials. Viele seiner Objekte halten dominante Schwalbenschwanzverbindungen zusammen. Typisch ist auch, dass sie aus einheimischen Hölzern sind, wie zum Beispiel Lärche, Arve oder Kastanie. Die Fähigkeit, so mit Holz umzugehen, erwarb Grond bei der gestalterischen Ausbildung zum Holzbildhauer in Brienz. «Dieses von Grund auf erlernte Holzhandwerk erlaubt mir, kühn zu experimentieren, denn ich habe ja ein Fundament, auf welches ich jederzeit zurückgreifen kann», erklärt er. Seit 1998 hat er ein eigenes Atelier «Grond Sculpture», das seit April 2020 in Sils Baselgia zu finden ist. Hier, rund zehn Kilometer von St. Moritz entfernt, hat er jetzt eine permanente Ausstellung. Im Winter haut er auch aus Eisblöcken Skulpturen. «Ein faszinierendes Material, obgleich es nur aus farblosen, transparenten Kristallen besteht. Mit Kettensäge und Beil kann ich seine Struktur betonen. Schliesslich darf man ja sehen, dass es ein Stück Natur und kein Plastik ist», sagt er.

Seine Auftraggeber sind noble Automarken, Hotels, Modelabels und Banken. Auch bei der Holzbildhauerei im Sommer führt er Auftragsarbeiten der Kategorie Kunst am Platz aus. So wie zum Beispiel bei der Kundin, die unweit seines Ateliers über einen Garten mit altem Baumbestand verfügt. Hier zauberte der Künstler aus einer 60 Jahre alten Lärche eine über 2 Meter grosse und trotzdem äusserst grazile Dame. Dazu kappte er den Stamm in drei Teile. Der erste blieb verwurzelt an Ort und Stelle. Aus ihm formte der Künstler Oberkörper und Kopf. Die beiden anderen funktionierte er in schlanke Beine um. So wie ihr Schöpfer bleibt die hölzerne Dame fest verwurzelt im Engadiner Boden und trägt den Kopf doch frei in der Luft.

«Alles schräg. Das ist schön. Heutzutage ist sowieso alles zu gerade.»

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 03. September 2020 / Ausgabe 36/2020

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