Zwischen Denkmal und Neuinterpretation

Traditionelle und zeit-genössische Strickbauten im bündnerischen Val Lumnezia: Wohn-häuser in Vrin und ein von Gion A. Caminada entworfenes Ferien-haus in Vignogn.

Strickbau.  In jüngerer Zeit in Graubünden und bereits während des 18. Jahrhunderts im Appenzellerland hat der Strickbau in unserem Land eine Weiterentwicklung erfahren. Bei dieser Bauweise handelt es sich um eine regionale Bezeichnung für den Blockbau.

Die Blockbauweise gehört zu den grundlegenden und ältesten Konstruktionsformen des Holzbaus. Sie ist, vor allem in waldreichen Regionen, weit verbreitet. So trifft man sie in Russland, Skandinavien, in Osteuropa, im Alpenraum oder auf dem Balkan. Die Wände bestehen dabei aus horizontal übereinandergelegten Rund- oder Kanthölzern. Wird Rundholz verwendet, kommt abwechslungsweise das dünnere auf das dickere Ende des Stammes zu liegen. An den Ecken werden die einzelnen Hölzer mittels Verblattungen oder Verkämmungen miteinander verbunden. Bei Bauten mit mehreren Räumen können die Innenwände, sofern sie in Massivholz ausgeführt sind, ebenfalls mit den Aussenwänden verblattet oder verkämmt sein. Sie zeigen sich dann als senkrechte Reihen von Balkenköpfen.

Der Blockbau hat sich im Laufe der Jahrhunderte nur wenig verändert. Er ist auch sehr beständig: Ein Blockhaus in Gais AR geht auf das Jahr 1535 zurück. Im modernen Blockbau verwendet man mit Nut und Kamm oder mit Feder verbundene Kanthölzer. Bestand früher die Gebäudehülle nur aus einer einzigen Schicht, die zugleich kleidende, raumabschliessende und tragende Funktion hatte, verfügt sie heute über den üblichen mehrschichtigen Aufbau. So kann die Blockwand beispielsweise aussenseitig mit einer Wärmedämmung und einer Fassadenbekleidung aus massivem Holz versehen sein. Innenseitig bleibt die Blockwand dann sichtbar.

Der Appenzeller Strickbau

Der Begriff «Strickbau» ist eine regionale Bezeichnung für den Blockbau. Laut Norbert Föhn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich, wird er vorwiegend im Raum Ostschweiz verwendet. Dort hat sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Eckverbindung weiterentwickelt. Vorher war der Eckverband noch mit 15 bis 20 cm langen Vorhölzern verkämmt. «Beim Appenzeller Strick handelt es sich um eine Eckverkämmung ohne Vorholz. Stattdessen besitzt er eine wandbündige Verzinkung in Schwalbenschwanzform sowie eine Nut-Kamm-Verbindung», schreibt Föhn in «Appenzeller Strickbau – Untersuchungen zum ländlichen Gebäudebestand in Appenzell Ausserrhoden». Das Buch ist das Resultat eines Forschungsprojekts des Instituts für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich und der kantonalen Denkmalpflege des Kantons Appenzell Ausserrhoden.

Dieser Eckverband ermöglichte die flächige Verkleidung von Fassaden. Laut der Publikation veränderte sich ab 1800 das Bild der Appenzeller Holzbauten grundlegend: Die bis dahin konstruktionsbedingt mit kleinen Fensteröffnungen ausgestatteten, balkensichtigen Fassaden wurden zunehmend mit Holzpaneelen verkleidet und mit mehrteiligen Fensterbändern versehen. Erst danach könne man von einer eigenständigen Entwicklung des Appenzeller Strickbaus sprechen. «Typisch für das Appenzeller Bauernhaus ist die Täferverkleidung der Hauptfassade, die häufig unabhängig der topografischen Lage nach Südost orientiert ist, das Schindelkleid an den wetterexponierten Gebäudeseiten und die Reihenfenster mit ihren Zugläden», sagt Föhn.

Besonderheiten der Konstruktion

In seinem Buch «Holzbau mit System – Trag-konstruktion und Schichtaufbau der Bauteile» schreibt Josef Kolb ganz knapp: «Die Merkmale des Blockbaus sind: hohes handwerkliches Können, besondere Holzauswahl, kunstvolle Eckverbände, starre Grundrissanordnungen und grosser Holzverbrauch. Den Setzmassen kommt besondere Bedeutung zu.»

Der Churer Bauingenieur Jürg Conzett hat die Ausführung verschiedener Strickbauten der Architekten Conradin Clavuot, Gion A. Caminada und Peter Zumthor geplant. In der Publikation «Col zuffel e l’aura dado – Gion A. Caminada» schreibt er, Architekten und Bauherren fassten ein Gebäude in der Regel als starres Gebilde auf, während der Ingenieur bei Brücken ganz selbstverständlich bewegliche Lager und Fahrbahnübergänge einbaute. «Beim Blockbau muss man die Bewegungen des Gebäudes akzeptieren und sie als charakteristische Eigenschaft schätzen lernen. Dann denkt man daran, die Treppen an einem Ende horizontal gleiten zu lassen, damit sie nicht als unfreiwillige Druckstreben die Setzung behindern; man versieht die Fenster- und Türstürze mit Setzungsfugen und man trachtet danach, die Druckspannungen in den Wänden etwa konstant über den Grundriss zu verteilen, um Kippbewegungen zu vermeiden», schreibt Conzett. Das statische Hauptproblem betreffe jedoch das «Ausbeulen», so Conzett weiter. Durch ungleichmässiges Schwinden innen und aussen wollten die Hölzer sich verdrehen und sich aus der Wandebene verschieben. Durch die geringere Steifigkeit des Holzes quer zur Faser neige das Holz dazu, unter starker Belastung seitlich auszuweichen. Blockbauwände werden erst durch ihre Verblattung mit anderen Wänden ausgesteift: Der Blockbau halte nur als in sich geschlossene «Kiste». Grosse Fensteröffnungen schwächten diese aussteifende Wirkung, so Conzett.

Verdrängung im 20. Jahrhundert

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Strickbau in der Schweiz immer seltener und ab Mitte des 20. Jahrhunderts von Leichtholzkonstruktionen abgelöst. Heute werden in Appenzell praktisch keine neuen Strickbauten mehr erstellt. Ruedi Bossard, Avor bei Nägeli Holzbau in Gais, erzählt: «Den letzten Strickbau, den wir gebaut haben, war derjenige von Gion A. Caminada in Brenden.» Das war 2005. Bossard erachtet den Strickbau als gute Variante des Massivholzbaus. Dennoch: «Ich möchte nicht in diese Zeit zurück», sagt er. Die Firma produziert vollautomatisch Massivholzelemente aus kreuzweise geschichteten Brettern, das «Appenzeller Holz». «Die Bretter müssen nicht die Festigkeitsklasse C24 erreichen und grössere Äste werden akzeptiert. So lässt sich der Stamm besser ausnutzen. Ausserdem liegen die Schwind-masse im Bereich von wenigen Millimetern. Das sind Vorteile gegenüber der Strickbauweise», so Bossard. Hinzu kommt die länger dauernde Arbeit auf der Baustelle. Dies bestätigt Claudio Alig, Geschäftsführer der gleichnamigen Schreinerei und Zimmerei im bündnerischen Vrin. Sein Betrieb hat verschiedene von Gion A. Caminada entworfene Strickbauten erstellt. «Im Vergleich zu modernen Konstruktionen ist die Strickbauweise aufwendiger und die Bauzeit daher länger», sagt er. Die Holzverbindungen werden heute natürlich nicht mehr von Hand, sondern von CNC-Fräsen gefertigt. Die bearbeiteten Kanthölzer fügen die Zimmerleute aber nach wie vor einzeln auf der Baustelle zusammen.

Neue Impulse

Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass neue Impulse in der Strickbauweise aus Graubünden kommen. Dort sind Strickbauten insbesondere in der Surselva, im Schanfigg und im Prättigau traditionell verbreitet. In den letzten Jahrzehnten haben sich verschiedene Bündner Architekten dem Thema gewidmet, am ausführlichsten jedoch Gion A. Caminada aus Vrin.

Josef Kolb stellt in «Holzbau mit System» die imitierte Blockbauweise als Weiterentwicklung dar. Dabei dient meistens ein Ständerbaugerippe als Tragkonstruktion, die sichtbaren Ecken werden aus Blockbalken hergestellt und die äussere Bekleidung erfolgt mit Schalungen, welche die Blockbalken imitieren. Gion A. Caminada betrachtet die Bau- und Konstruktionstradition offensichtlich nicht als etwas Abgeschlossenes, das sich allenfalls imitieren lässt. Während seiner langen Beschäftigung mit der Strickbautechnik und in seinen zahlreichen, vor allem in Graubünden, aber auch im Wallis und in Appenzell Innerrhoden realisierten Strickbauten, hat er die Grenzen dieser Bauweise ständig erweitert.

Weitergedacht

Im von Petra Hagen Hodgson und Rolf Toyka herausgegebenen Buch «Der Architekt, der Koch und der gute Geschmack» beschreibt Gion A. Caminada diesen Prozess folgendermassen: «Das traditionelle Strickbau-Haus weist immer eine Kombination von Küche und Kammer auf, wobei der Küche eine zentrale Bedeutung zukommt. Für mich stellte sich die Frage, wie der Typus des Strickbau-Hauses neu verwendet werden kann, so dass er den modernen Lebensbedürfnissen entspricht. Zunächst habe ich die Flure etwas breiter gemacht. Dann kam ich zu einer anderen Entwurfsmethodik. Ich begann, Raumzellen zu setzen und sie mit Wänden zu umspannen. Das heisst, ich habe beim Entwerfen mit Räumen gearbeitet und nicht mit Wänden. Letztendlich hat es mich zur Erfahrung geführt, dass man beim Strickbau die Konstruktion auch stark modulieren kann und nicht unbedingt in Vertikalen und Horizontalen denken muss. So habe ich mehr und mehr Bauteile aus dem Baukörper herausgeschnitten, ihn sozusagen ausgehöhlt.» Bei seinen jüngeren Strickbauten interessierte ihn das Prinzip der Masse: Keine andere Bauweise habe eine so dichte Masse wie der Strickbau, schreibt Caminada.

Er spricht von einer Entwicklung von der Haus- zu einer Strick-Typologie. Der Haus-typ bezieht sich auf eine Region und die dort lebenden Menschen, während sich der Strickbautyp vom Ort lösen kann. Somit wäre ein Strickbau auch in einem städtischen Umfeld denkbar.

Neuer Lehrgang

Neben der Weiterentwicklung der Strickbauweise gibt es aber auch die Sorge der Denkmalpflege um den Fortbestand der vielen alten Strickbauten, beispielsweise im Appenzellerland. Um diesen zu sichern, bedarf es fachkundiger Unterhalts- und Sanierungsarbeiten im Wissen um die charakteristischen Eigenschaften der Baukonstruktion. Dieses Wissen droht jedoch zu verschwinden. Die Publikation «Appenzeller Strickbau – Untersuchungen zum ländlichen Gebäudebestand in Appenzell Aus-serrhoden» ortet einen Mangel in der Ausbildung.

Eine Lücke dürfte hier die Weiterbildung «Handwerk in der Denkmalpflege» schlies-sen, die Ende August beginnt. Diese rich-tete sich bisher nur an Gipser, Maler, Stuckateure und Maurer, neu jedoch auch Gartenbauer, Holzbauer und Schreiner. Der Restaurator Ambrosius Widmer, der die Inhalte des Moduls «Holzbau» betreut, gibt zur Auskunft: «In den Grundmodulen wird es bereits allgemeine Informationen zum Blockbau geben. Detailliert wird darauf im Modul ‹Holzbau› eingegangen, welches im nächsten Frühjahr beginnt.»

www.idb.arch.ethz.chwww.appenzellerholz.chwww.alig.chwww.handwerkid.ch

RW

Veröffentlichung: 16. August 2012 / Ausgabe 33/2012

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