Artgerecht möbliert

Die Möbel von Henry Timi sind wie schlichte Skulpturen. Auf sichtbare Funktionsteile verzichtet der Maestro meist, integriert sind die Funktionen trotzdem. Bild: Henry Timi

Kunst und Design.  Manchmal kommen sich Kunst und Design nahe. Meist bleiben die Disziplinen jedoch für sich, denn der Beziehungsstatus ist eher kompliziert. Dabei bringt das Bemühen der Gemeinsamkeit grossartige Ergebnisse hervor, wie einige Beispiele zeigen.

Manche Beobachter des zeitgenössischen Kreativschaffens sehen schon einen Trend hin zu einer neuen Verbrüderung von Design und Kunst beim Interieur. Grosse Luxusmarken mit opulenten Entwürfen von Aston Martin bis Versace tragen wohl ihren Teil dazu bei. Die Projektion von Glanz und Gloria zu horrenden Preisen für ein lukratives Luxusgeschäft ist eine eigene Disziplin. Denn Kunst und Design sind nicht das gleiche. Gott sei Dank, möchte man sagen, gibt es dennoch viele gute Beispiele, bei denen Kunst und Design Hand in Hand gehen. Das Ganze hat durchaus Tradition.

Disziplinen

Dass Möbel und Gebrauchsgegenstände irgendwo zwischen Werk und Utensil ihren Platz suchend durchaus zwischen den Genres hin und her rangieren, ist in der gemeinsamen Geschichte von Design und Kunst immer wieder zu sehen. Das vielleicht berühmteste einzelne Stück stammt vom spanischen Künstler Salvador Dalí: das knallrote Lippensofa. Viele Künstler probieren sich irgendwann auch an Möbeln, selten jedoch sind sie von solchem Erfolg gekrönt wie im Falle von Dalí.

Auch Gestalter Charles Rennie Mackintosh aus Schottland oder der Schweizer Le Corbusier gingen mit ihrem Schaffen scheinbar mühelos über die Diszplinen hinweg. Auf besonders intensiver Tuchfühlung waren Kunst und Design zweifelsohne während der Zeit des Bauhauses. Aus dieser Zeit erwuchsen später die Werke vom gebürtigen Winterthurer Max Bill, der ebenfalls in allen Disziplinen gleichermassen zu Hause war. Als lebendes Beispiel kann ein anderer Schweizer dienen. Der gelernte Schreiner Peter Zumthor bringt bis heute immer wieder Kunstwerke der Architektur von vehementer Kraft und erhabenem Ausdruck hervor.

Angewandte Unterschiede

Ein Designer mit künstlerischer Radikalität, dessen Arbeiten an die Konsequenz in Materialisierung und Form von denjenigen von Zumthor erinnern, ist der Italiener Henry Timi. Mit einer fast schon aufdringlichen Schlichtheit erschafft Timi Möbel und Räume von klösterlich-sakraler Anmutung. Sein oft unverrückbares Interieur zeigt der Gestalter im Showroom in Mailand. Neben Steinen wie Travertin oder Marmor und edlen Hölzern entsteht schon mal eine komplett mit Silberblech verkleidete Küche oder eine Küchenzeile, die wie die Untersicht einer zimmerbreiten Treppe stufenförmig den Raum überragt. Das ist nicht unbedingt praktisch, ganz im Gegenteil. Je tiefer und weiter runter man an die stufenförmige Schrankwand möchte, desto mehr muss man in die Skulptur hineinkriechen. Und auch mancher der äusserst minimalistischen Holzstühle aus der Feder des Künstlers ist nicht wirklich bequem, um länger darauf zu sitzen. Dafür ziehen die Stühle die Blicke auf sich. Man erkennt darin die Liebe zu hochwertigen Materialien, und gut sichtbar ist auch das Bestreben, alles wegzulassen, was auch nur verdachtsweise überflüssig sein könnte.

Das trifft dann auch mal die Küchenarmatur: Das praktische Hilfsmittel sucht man unter Umständen vergebens bei Küchen von Timi. Das Wasser kommt stattdessen aus einer etwa 8 Millimeter langen Bohrung direkt aus dem Stein. So plätschert es dahin, ganz ohne Perlator und Chromteil. Eher wie ein Quellaustritt im Gebirge als ein praktischer Wasserspender in der Küche.

Wären Timis Arbeiten einfach Design, gäbe es wohl einen Wasserhahn in mehr oder minder gewohnter Ausprägung. Die Philosophie erlaubt es aber nicht. Für Timi ist ein Raum ein Ort, der die Seele bereichert, weil so wenig wie möglich den Raum stört und füllt. Leere und Einfachheit in edelsten Materialien und hochstehend verarbeitet, das sind die Zutaten für seine Arrangements. Und ein wenig klingt es so, als ob es um die italienische Kulinarik ginge.

Ein Himmel voller Bücher

Der Salone del Mobile in Mailand ist traditionell genauso wie der schmerzlich vermisste Designer’s Saturday in Langenthal ein Ort, wo Kunst und Design aufeinandertreffen. Das ist weit über die Grenzen hinaus bekannt. So nutzt auch ein Label wie Lumio aus den USA die italienische Plattform, um künstlerisch inszeniert ein Buch als Leuchte darzustellen. Lumio kann man auch ganz aufschlagen und aufhängen, was zu einer Himmelslandschaft voller leuch-tender Bücher führt. Ein Lächeln und Staunen zaubert das Öffnen des Buches in Holz jeder und jedem ins Gesicht. Ob es Kunst ist oder doch Design, sei dahingestellt, in jedem Fall sorgt Lumio für entzückte Gesichter.

Alle Register ziehen

Seit langer Zeit bringt das Atelier Oï aus La Neuveville BE in vielen Arbeiten seinen ganzheitlichen Ansatz beim Gestalten zum Ausdruck. «Der Ausgangspunkt ist das Verständnis des Kontextes. Jedes Projekt ist für uns eine spezifische Frage in Bezug auf einen spezifischen Kontext», erklären die drei Gründer Armand Louis, Aurel Aebi und Patrick Reymond schriftlich auf Anfrage der Redaktion. Der kreative Prozess bei Atelier Oï basiere auf der Definition einer spezifischen Geschichte oder eines Szenarios für ein Projekt sowie auf Erfahrungen mit Materialien. «Diese Mischung aus Geschichten und Materialien ist das, was wir Storytecture nennen. Wie eine Geschichte auf einen Kontext reagiert, bestimmt die Art und Weise, wie Materialien in Projekte und Formen umgewandelt werden», formuliert das Führungstrio.

Besonders eindrücklich konnten die Macher ihre Stärken beim Projekt Oïphorique zeigen. Was zunächst als Leuchte erdacht wurde, kann auch als raumfüllende Installation dienen, wie erstmals 2011 an der Neuen Räume in Zürich gezeigt. Durch das Befolgen der Prinzipien lassen sich Arbeiten sowohl skalieren als auch übertragen. «Die Bewegung der Leuchte regte uns dazu an, sie uns in einem grösseren Raum und einem grösseren Kontext vorzustellen, um ihre Bewegung dort zu vermitteln», so das Atelier. Am Ende stand eine Präsenta- tion, die Form und Anmutung von Material, Licht, Klang und Bewegung vereint.

Die Materialien begreifen

Bei den Arbeiten des Ateliers Oï zeigt sich in besonderer Weise, wie ein Gestaltungsprozess Gesetzmässigkeiten folgt und zielgerichtet Lösungen und Antworten liefert. Kunst dagegen wirft Fragen auf, anstatt sie zu beantworten. Beim Atelier Oï lässt man diese zu und erzeugt auch neue Fragen durch die Transformation der Ergebnisse in andere Umgebungen mit neuem Kontext. Selten gehen Kunst und Design so Hand in Hand wie bei den Westschweizern.

Grundlage für solche Transferleistungen ist das Begreifen von Materialien. Nur dann gelingen solche Transformationen. «Die Wichtigkeit des Experimentierens mit Materialien ist in all unseren Projekten präsent. Egal, ob es ein Möbelstück für einen Kunden oder für unsere Kunstinstallationskollektion ist. Unser Prozess, mit den Händen zu denken und zu experimentieren, bleibt stets unverändert», bekräftigen die Gestalter.

Kunst kann alles

Kunst ruft Gefühle in uns hervor. Das kann auch durchaus anstrengend sein. Design ist in sich abgeschlossen und gibt uns so das Gefühl von Sicherheit. Mit diesem Spannungsfeld experimentiert der deutsche Designer Nils Holger Moormann. Seine Arbeiten zeichnen sich regelmässig durch eine rücksichtslose Originalität, meist auch durch eine gehörige Prise Ironie, aber immer durch viel Humor aus.

Da ist etwa der Bookinist. Er lässt der eigenen Fantasie viel Raum und ist eigentlich auch selbsterklärend. Moormann selbst fasst es so zusammen: «Der Bookinist ist ein mobiler Lesesessel. Dem Prinzip einer Schubkarre nachempfunden, kann er an jeden Lieblingsplatz gerollt werden. Wie eine kleine Bibliothek beherbergt er Bücher, Schreibutensilien und eine Leselampe. Schmökern natürlich inbegriffen.»

www.henrytimi.comwww.hellolumio.comwww.atelier-oi.chwww.moormann.de

Memphis-Gruppe

Pfeif doch auf die Funktionalität

Der Medienrummel war in den 1980er- Jahren enorm. Später sind die Arbeiten der Mailänder Gruppe Memphis aus Designschaffenden um Ettore Sottsass aus dem Blickfeld geraten.

Die Mitglieder der Gruppe lehnten die vorherrschenden Regeln des Funktionalismus grundsätzlich ab und erschufen Möbel mit hohem Wiedererken- nungswert. Für das «Anti-Design» nutzte man die Grundformen von Kegel, Kugel, Pyramide oder Würfel in Verbindung mit bunten Kunststoff-oberflächen. Die unverwechselbare Optik der Memphis-Entwürfe sorgte für eine weltweite Verbreitung. An der letzten Ausstellung Neue Räume in Zürich 2022 war das Label nach langer Zeit wieder einmal zu sehen.

www.memphis-milano.com

Christian Härtel

Veröffentlichung: 20. Juli 2023 / Ausgabe 29-30/2023

Artikel zum Thema

25. April 2024

Simple, praktische Designexponate

Möbel.  Als weltweit grösste Designmesse lockt der Salone del Mobile jedes Jahr unzählige Besucher nach Mailand. So auch heuer wieder, wo sich Interessierte aus allen Herren Länder von den neusten Trends, Farben, Formen und Materialien inspirieren liessen.

mehr
24. April 2024

Horgenglarus zügelt in ehemalige Wolltuchfabrik

Möbel. Die AG Möbelfabrik Horgenglarus verlagert ihre Produktion bis April 2027 komplett in die frühere Wolltuchfabrik Hefti in Hätzingen GL. Der neue Sitz der 144-jährige Traditionsfirma liegt ebenfalls im Kanton Glarus, nur wenige Kilometer südlich des jetzigen Standorts.

mehr

weitere Artikel zum Thema:

Möbel