Den Kopf voller Geigen

Geigenbau.  Ein Zahnarztspiegel, der wahrscheinlich kleinste Hobel der Welt, ein altes Messer – und jahrhundertelange Erfahrung: Geigenbau ist ein faszinierendes Metier. Besuch im Atelier des Zürcher Geigenbaumeisters Micha Sennhauser.

Mitten in der Zürcher Altstadt – das Grossmünster in Sichtweite – wird gearbeitet wie vor 400 Jahren: Micha Sennhauser, 36-jährig und Geigenbaumeister, betreibt an der Schlossergasse zusammen mit seinen beiden Compagnons ein Geigenbauatelier. Und tatsächlich: Ein Besuch in seiner Werkstatt gleicht einer Zeitreise. Hier wird von Hand gearbeitet, der Maschinenpark besteht gerade mal aus einer alten Bandsäge und einer Drehbank.

Zuerst ist das Modell

Aber von vorne: Bevor der Geigenbauer mit dem eigentlichen Bau einer Geige beginnt, plant er ein Modell. Dabei kommt ihm sein historisches Wissen zugute, schliesslich muss bei einer Geige alles zusammenpassen – je nachdem, an welcher Schule und welcher Epoche sich sein Modell orientiert. Im Anschluss wird aufgrund der Modellzeichnungen ein sogenanntes Formbrett gebaut, quasi ein Rohling, auf dem später die Zargen, also die Seitenwände der Geige, fixiert werden. Die Zargen sind übrigens die einzigen Teile einer Geige, die nicht aus massivem Holz geschnitzt sind. Das Biegen erfolgt mit Feuchtigkeit und Hitze: Kurz ins Wasser getaucht, werden die einen Millimeter starken Furniere auf ein speziell geformtes, erhitztes Eisen gelegt und sanft gebogen. Dabei ist Vorsicht geboten, da die dünnen Hölzer gerne ankokeln. Was aber eigentlich gar nicht weiter schlimm ist, denn: «Sie finden auf jedem historischen Instrument mindestens eine verbrannte Stelle», verrät Micha Sennhauser. «Stradivari hat seine Zargen vermutlich am heissen Ofenrohr gebogen.» Sind die Zargen am Formbrett fixiert, ist die Form der Geige gegeben und kann auf das Holz für Decke und Boden übertragen werden.

Vom Groben ins Feine

Im Geigenbau kommen vornehmlich Ahorn und Fichte zum Einsatz: Der Boden, die Zargen, der Hals und die Schnecke werden normalerweise aus Bergahorn gebaut, seltener aus Fruchthölzern, Weide oder Pappel. Die Decke besteht aus Fichtenholz; die Jahrringe sind auf der fertigen Geige als Längsstreifen zu sehen. Was nun folgt, ist der eigentliche Zauber des Geigenbaus: Boden und Decke werden, nachdem die Form auf das massive Brett übertragen wurde, von Hand ausgearbeitet. Dabei kommen Hobel in verschiedenen Grössen, Ziehklinge und Stechbeitel zum Einsatz. Vom Groben ins Feine lautet die Devise – am Schluss, für die engen Rundungen in der Taille des Instruments, benutzt der Geigenbauer einen Hobel in der Grösse eines Fingernagels. Die wichtigsten Werkzeuge sind jedoch die Ohren des Geigenbauers: Regelmässig testet er den Klang der Decke, schliesslich ist das Verhältnis von Innen- und Aussenwölbung verantwortlich für den Klang.

Strenge Aufnahmekriterien

Hier ist Erfahrung alles, und es verwundert nicht, dass die Ausbildung zum Geigenbauer vier Jahre dauert, gefolgt von Wanderjahren. Micha Sennhauser, der in Luzern noch eine zweite Werkstatt betreibt, hat seine Ausbildung an der Geigenbauschule in Brienz absolviert und war danach in England und den USA auf Wanderschaft. Das Aufnahmeprozedere ist streng: Zwei bis drei Lehrlinge werden in Brienz pro Jahr aufgenommen, ausgewählt aus mehreren Dutzend Bewerbern. Dabei kommen die wenigsten aus Holzberufen, sagt Sennhauser. «Ich kenne Geigenbauer, die haben ursprünglich Hochbauzeichner gelernt – in meiner Klasse war sogar eine Metzgerin.» Man müsse auch nicht unbedingt Geiger sein, auch wenn es nicht schade. «Viel wichtiger ist es, zu wissen, wie eine Geige funktioniert, damit ich auf die Ansprüche der Kunden eingehen kann.»

In seiner Werkstatt baut er nicht nur neue Geigen, sondern erledigt auch viele Reparaturen und Restaurationen und braucht daher ein besonderes Gespür für Kundenwünsche. Etwa dann, wenn jemand eine alte, aber zwischenzeitlich verbastelte Geige in den historisch korrekten Urzustand zurückbauen lassen will.

Wenn die Form der Funktion folgt

Zurück in der Werkstatt: Als nächster Schritt werden die F-Löcher in die Decke gebohrt bzw. gesägt und anschliessend mit dem Schnitzer angepasst. Dabei gleicht keins dem anderen, was jeder Geige zusätzlichen individuellen Charakter verleiht. Die F-Löcher, die für den Luftaustausch sorgen, sehen nicht nur elegant aus, sie sind die perfekte Symbiose von Form und Funktionalität: Die F-Form ermöglicht eine optimale Öffnung bei gleichzeitigem Flexibilitätsgewinn der Decke. Dennoch benötigt die Geige Stütze von innen. Dies in Form des Bassbalkens, der, längs an die Decke geleimt, die Frequenzen verteilt und somit Klang und Spielgefühl massgeblich beeinflusst. Als vorläufig letzter Schritt in der Herstellung von Boden und Decke lässt der Geigenbauer die Ein- lagen in das Holz ein. In der Regel aus zwei schwarzen und einem weissen Streifen bestehend, sorgen sie neben der hübschen Optik dafür, dass etwaige Risse nicht bis zum Rand der Geige gehen können.

Geigenbau braucht Zeit

Wer Geigenbauer sein will, muss sich auch in der Kunst der Langsamkeit auskennen; gehudelt wird hier nicht. Bis Sennhauser eine neue Geige fertig gebaut hat, vergeht im Durchschnitt ein Monat; seine Instrumente kosten dann auch einen tiefen bis mittleren fünfstelligen Betrag. «Eine gute, spielbare (Schüler-)Geige gibt es ab ca. 2000 Franken», erklärt Sennhauser. Wobei die Preise nach oben ins Grenzenlose steigen können. «Ab einem gewissen Preisniveau werden Geigen wie Kunstwerke als Wertanlagen gehandelt», sagt er. «Diese Geigen gehören dann aber auch nicht mehr unbedingt Musikern, sondern eher Banken oder Sammlern.» Eigentlich verwunderlich, war die Geige doch ursprünglich ein Instrument des Volkes, das sich dann aber im Laufe der Zeit gegen die damals vom Adel gespielten Gamben durchgesetzt hat. Zudem bildete die Herstellung einzelner Teile, etwa das Schnitzen der Schnecke, ein Zubrot für Bauern, die dem Geigenhändler unter zum Teil widrigsten Umständen zuarbeiteten, wäh- rend dieser mit dem Verkauf der Instrumente gutes Geld machte.

Aufwendiges Finish

Damit die Geige vollends zur Geige wird, muss natürlich noch der Hals dran. Dieser wird samt der Schnecke aus einem Block Bergahorn hergestellt und mit Schnitzer, Raspel und Feile geformt. Bei modernen Instrumenten wird der Hals mit einer Schwalbenschwanz-Verbindung an den Korpus geleimt – bei barocken Geigen wird er mit einem Nagel befestigt. Nun sieht die Geige schon sehr nach Geige aus, die einzelnen Teile sind fast komplett zusammengefügt. Was aber jetzt folgt, die letzten fünf Prozent, benötigt die Hälfte der gesamten Bauzeit einer Geige: das Finish. Also grundieren, lackieren und einstellen, «spielbar machen», wie der Geigenbauer sagt. Die Grundierung macht das Holz leuchtend und gleichzeitig dunkler und schliesst die Poren. Der Lack, der danach aufgetragen wird, bräuchte eigentlich seine eigene Geschichte in dieser Zeitung, so vielfältig sind Zusammensetzungen und Auftragstechniken. Nur so viel: Geigenlack basiert meist auf Harz und Öl und wird mit dem Pinsel oder sogar von Hand aufgetragen, je nachdem, welcher Effekt gewünscht wird. Dabei geht der Vintage-Trend auch nicht an den Geigen-Liebhabern vorbei: In aller Regel wird eine fertig lackierte Geige mit verschiedenen Kunstgriffen noch etwas auf alt getrimmt.

Auf den Spieler angepasst

Damit eine Geige gespielt werden kann, werden alle weiteren Teile wie Griffbrett, Stimmwirbel (mit einer Art Spitzer passend gemacht), Ober- und Untersattel, Steg, Saitenhalter, Saiten, Kinnhalter und Schulterstütze angebracht – und für jedes Instrument und für jeden Spieler individuell angepasst. Ein kleines – und unsichtbares – Teil ist jedoch fast das Wichtigste für einen guten Klang: der Stimmstock, ein Fichtenholzstab, der unter dem Steg eingeklemmt wird und die Schwingungen zwischen Decke und Boden überträgt. Da die Geige mittlerweile zusammengebaut und geschlossen ist, wird der Stimmstock durch ein F-Loch eingeführt und positioniert, die nötige Orientierung gewährleistet hierbei ein handelsüblicher Zahnarztspiegel.

Ein besonderer Geigen-Öffner

Ein ganz spezielles Werkzeug darf hier nicht unerwähnt bleiben: das Buttermesser. Geigen sind zwar ausgesprochen empfindliche Instrumente, sind aber schlauerweise so gebaut, dass man sie für eine Reparatur auseinandernehmen kann. Und da im Geigenbau traditionellerweise Haut- und Knochenleim verwendet wird, der sich auch nach Jahrhunderten lösen lässt, können auch sehr alte Instrumente relativ einfach in ihre Einzelteile zerlegt werden. Und dafür braucht es dann eben ein einfaches Messer, mit dem Decke und Boden vom Zargen getrennt werden können. Wenn man bedenkt, was Geigen so kosten, illustriert dieses simple Werkzeug den bescheidenen Pragmatismus, der die Geigenbauer auszuzeichnen scheint – Micha Sennhauser etwa hat seins aus dem Brockenhaus.

www.geigenbaumeister.chwww.geigenbauluzern.ch

Ausstellung

12 Schritte vom Wald zur Musik

Vom 15. Juni bis zum 15. September 2017 verwandelt Micha Sennhauser den Showroom seiner Luzerner Werkstatt in eine Erlebnisausstellung für alle Sinne. Die Besucherinnen und Besucher sehen, hören, riechen, schmecken, tasten Holz, Lack, Musik, Werkzeuge und weiteres.

www.12schritte.ch

AR

Veröffentlichung: 25. Mai 2017 / Ausgabe 21/2017

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