Der Traum von Tokio

Sandra Stark (30) hat sich als Pistolenschützin für die Europa-meisterschaften in Kroatien qualifiziert. Bild: PD

Mit schnellen Schritten geht die junge Frau über den Platz. Sie zieht einen schwarzen Koffer nach, trägt einen roten Rucksack und ein Sportshirt. Wer es nicht besser weiss, sieht in ihr eine Reisende auf dem Weg in die Ferien. Aber im schwarzen Koffer liegen weder Strandtuch noch Bikini. Denn die Frau mit dem Pferdeschwanz hat nicht vor, am Strand zu liegen. Sie hält einen Chip an das Türschloss des Schützenhauses in Wil SG, wuchtet den Koffer die Treppe hoch in den ersten Stock, packt aus: Luftpistole, Munition, Gehörschutz, Stoppuhr, Schraubenzieher und Taschenmesser. Hier, im Indoor-Schiessstand etwas ausserhalb der Äbtestadt, fühlt sie sich wohler als an jedem Strand dieser Welt. Sie – das ist die Thurgauerin Sandra Stark, Schweizer Meisterin von 2016 im Luftpistolenschiessen auf 10 Meter, seit 2017 im Nationalkader und so-eben qualifiziert für die Europa-meisterschaften im Luftpistolen- schiessen im kroatischen Osijek. Mit geübten Bewegungen setzt sie den Holzgriff an ihre Luft-pistole, breitet den Kofferinhalt auf einem Tuch aus und füllt die Munition ein, bestehend aus einem Bleikügelchen, etwas grösser als ein Hagelzuckerkorn. Stehen, sich konzentrieren, schiessen, nachladen – rund 60 Mal in eineinviertel Stunden wiederholt sie diesen Ablauf an Wettkämpfen.

Das sei anspruchsvoll, mental und körperlich, sagt die 30-Jährige. Sie kennt die Vorurteile, die mit ihrem Sport verbunden sind. «In meiner Hand liegt keine Waffe, sondern ein Sportgerät», bemerkt sie mit Blick auf ihre Luftpistole. Und: Mit «Ballerei» habe sie als Sportschützin nichts zu tun. Wieder stellt sie sich gerade hin, streckt den Arm, zielt, trifft.

«Mich fasziniert die Präzision», sagt sie, «das Übereinstimmen von Körper und Geist.» Wenn sie sich auf einen Schuss konzentriert, blendet sie alles andere aus. Etwa den vorherigen Schuss, der nicht so gut war, oder den Schützen nebenan. Sie lacht. «Das habe ich lernen müssen – und ich lerne es noch immer. Mentaltraining ist wichtig beim Schiessen. Nur wenn ich mich wirklich auf den Schuss fokussiere, bin ich gut.» Und mit dem «Gut» ist es bei der Schreinerin so eine Sache. «Es gibt noch Luft nach oben», sagt sie schlicht. Ehrgeizig sei sie schon immer gewesen, räumt sie ein. Das zeigt sich nicht nur im Schiesssport, ob mit der Luft- oder der Sportpistole. Das zeigte sich auch bei der Schreinerlehre, Berufsmaturität inklusive: «Ich gab mich nicht mit einer Vier zufrieden.»

Die Weiterbildung zur Sachbearbeiterin Planung des VSSM auf dem Bürgenstock schloss sie als Jahrgangsbeste ab. Seither ist sie in der Vorbereitung Planung bei der Bisag AG tätig – mit einem Pensum von 75 Pro-zent. «Das geht nur, weil mein Arbeitgeber sehr gross-zügig mit den Absenzen umgeht.» Mehr liege zeitlich nicht drin, bei 20 Stunden Training wöchentlich plus fünf Nationalkader-Trainingstagen pro Monat in Magg-lingen. Das nächste Ziel ist die EM, das übernächste die Olympischen Spiele 2020 in Tokio.

«Tokio ist eher ein grosser Traum», relativiert sie. Aber kein abwegiger, schaut man sich ihre jüngsten Erfolge an. Sie holte 2017 als Sportpistolenschützin (25 Meter) Silber an der Schweizermeisterschaft, 2018 Bronze mit der Luftpistole, trägt den Titel «Rheinschützenkönigin 2018» und siegte im letzten Jahr an einem internationalen Wettkampf in Luxemburg. Doch der Erfolg hat auch eine Kehrseite: «Er erhöht den Druck», sagt Stark, während sie die Ausrüstung sorgfältig verstaut.

Sandra Stark ist keine, die auf bisherigen Erfolgen ausruht. Im Gegenteil. Sie sehe viel Steigerungspotenzial, sagt sie und wiederholt jenen Satz, der schon einmal gefallen ist: «Es gibt noch Luft nach oben.»

«In meiner Hand liegt keine Waffe, sondern ein Sportgerät.»

hid

Veröffentlichung: 31. Januar 2019 / Ausgabe 5/2019

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