Die Kunst des guten Sitzens

Trotz der weit nach vorne reichenden Armlehnen sind diese zu scharfkantig, um sich aufzustützen. Bild: Andreas Brinkmann

Stühle.  Sitzen ist eine Körperhaltung, die immer einem bestimmten Zweck dient und somit in ihrer Dynamik stark variiert. Worauf man sitzt, muss diese Haltung unterstützen. Jeder Schreiner, der Stühle selbst entwickeln oder anbieten will, braucht deshalb ein Basiswissen.

Ein Schreiner, der Tische herstellt und vielleicht sogar noch passende Korpusmöbel für Esszimmer fertigt, hat einen Vorteil, wenn er auch passende Stühle anbieten kann. Von allen Möbeln müssen jene zum Sitzen am meisten auf die Besonderheiten des menschlichen Körpers Rücksicht nehmen. Stühle sind zudem die Sitzmöbel, die auch noch platzsparend, leicht und mobil ihre Aufgabe erfüllen sollen. Sie müssen daher sehr widerstandsfähig bei dynamischen Bewegungen sein und problemlos Personen mit deutlich über 100 kg Körpergewicht tragen. Gut aussehen und zur Einrichtung passen soll das Ganze natürlich auch noch. Wer also Stühle anbieten oder sogar herstellen möchte, sollte einiges über Grundlegendes der Gestaltung und Konstruktion solcher Möbel wissen.

Es gibt kein Sitzmöbel für alles

In der Regel dann, wenn wir in Ruhe etwas geniessen, betrachten, essen oder schreiben möchten, setzen wir uns dazu hin. Worauf man sich dann setzt, das sollte Unterstützung darin bieten, was man gerade tun möchte. Es macht einen Unterschied, ob man in einem Konzert sitzt oder an einem Tisch im Restaurant. Bei einer Vorführung will man bequem und entspannt zurücklehnen und das Geschehen auf der Bühne verfolgen. Es ist dabei egal oder sogar von Vorteil, wenn die Stühle miteinander verbunden sind.

Ganz anders muss ein Essstuhl sich gut verschieben lassen, damit eine individuelle Position am Tisch eingenommen werden kann. Dabei sitzt man recht aktiv, leicht vorgelehnt, mit den Händen auf dem Tisch. Erst nach der eigentlichen Mahlzeit, beim Gespräch, möchte man vielleicht etwas zurücklehnen und eine bequemere Stellung einnehmen. Dann könnten sogar Armlehnen angenehm sein. Davor stören sie eher, weil sie eventuell nicht unter das Tischblatt passen, man die Ellbogen anschlagen kann oder sie die sitzende Person schlicht ein- engen. Wenn alle am Tisch sitzen und man aufstehen möchte, muss ein Stuhl mit Armlehne weiter nach hinten geschoben werden, damit man raus kann. Die Stühle sollten dann auch nicht zu eng beieinanderstehen. Von Vorteil sind Armlehnen, wenn sie bis zur vertikalen Flucht der Vorderbeine reichen. Dann kann sich eine körperlich beeinträchtigte Person beim Setzen oder Aufstehen an ihnen gut aufstützen. Das ist sehr oft sicherer, als wenn sie sich auf dem Tisch davor abstützt.

Die Schönheit passt zum Zweck

Ein Objektstuhl, der in nebeneinanderstehender Reihe in einem Mehrzwecksaal für die Besucher von Vorstellungen gedacht ist, muss als Glied dieser Reihe von vorne und hinten als schön wahrgenommen werden. Einzeln wird er eher eine zu kubische Form aufweisen.

Der Essstuhl zeigt seine wahre Schönheit von hinten, denn er steht normalerweise an einem Tisch. Rückenlehne und Hinterbeine bestimmen die Dynamik des Gesamtbildes, weshalb sie oft schmal gehalten werden, um den Platz am Tisch optisch nicht einzuengen.

Stühle für Diskussionsrunden, Konferenzen und dergleichen werden als Einzelobjekt wahrgenommen und müssen freistehend von allen Seiten optisch ansprechen. Sie sind für längeres Sitzen gedacht und sollten entsprechend bequem sein – Armlehnen sind da von Vorteil. Runde, den Körper umgreifende Rückenlehnen werden in diesem Nutzungsbereich als angenehm empfunden. Bei Ess- oder Arbeitsstühlen fühlen sich viele Personen damit eingeengt.

Angenehm gestützt

Wenn die Stuhllehne den Rücken wirklich und an der richtigen Stelle stützt, wird sie als bequem wahrgenommen. Es ist wichtig zu wissen, dass die Bequemlichkeit nicht davon abhängig ist, ob auf der Sitzfläche oder der Rückenlehne nachgiebige Materialien wie Polster oder gespannte Stoffe verwendet werden, sondern vor allem davon, wo die Körperteile aufsetzen.

Damit die Wirbelsäule nicht aufliegt, ist die Rückenlehne leicht gewölbt, sodass der hohle Bereich zum Rücken schaut. Da das Gesäss des Sitzenden etwas Platz benötigt, beginnt der untere Auflagepunkt der Lehne idealerweise frühestens etwa 180 mm über der Sitzfläche. Die Lehne sollte mindestens bis 300 mm über die Sitzfläche reichen und bis 450 mm liegt sie bei vielen erwachsenen Personen so, dass sie nicht mit den Schulterblättern kollidiert. Eine hohe Lehne, auf der die Schulterblätter aufliegen können, geht. Deutlich unter 300 mm ist es eher eine Beckenstütze, was aber bei einem Barstuhl durchaus angenehm ist.

Die vom Sitz an gerade Rückenlehne

Es gibt Rückenlehnen, die in vertikaler Richtung eine gerade Linie von der Sitzfläche aufwärts zeigen und somit keinen ausgeformten Platz für das Gesäss aufweisen. Durch eine steilere Stellung können auch solche Lehnen Komfort vermitteln. Sie liegen dann aber nicht flächig auf dem Rücken auf. Überhaupt ist der Winkel zwischen der Sitzfläche und der Rückenlehne sehr wichtig. Bei einem Stuhl geht der von 94° bis maximal 105°. Gerade bei dünnwandigen Formsperrholzschalen sollte ein kleiner Winkel gewählt werden, da die Lehne bei Belastung etwas nachgibt. Eine starre Lehne mit Freiraum für das Gesäss braucht einen grösseren Winkel. Wie die Sitzfläche sollte auch die Lehne eine Wölbung quer zum Stuhl mit Hohlseite nach oben aufweisen. Interessanterweise reicht auch eine runde, leichte Vertiefung in der Mitte der Sitzfläche mit einem Durchmesser von etwa 300 mm, wie sie bei Sperrholzsitzen anzutreffen ist.

Aktiv oder ruhend sitzen?

Auch die Sitzfläche braucht eine Neigung, die ist aber sehr stark von der Tätigkeit abhängig, welcher der Sitzende gerade nachgeht. Parallel zum Fussboden kann in einem Wirtshaus gut funktionieren. Beim Essen und Trinken lehnt man sich eher nach vorne. Daheim am Esstisch möchte man sich aber auch zurücklehnen. Da muss die Neigung 2–3° nach hinten gehen. Um an einem Tisch längere Zeit arbeiten zu können, sollte sich die Sitzfläche ausladend 2–3° nach vorne neigen – so wird das Blut in den Beinen weniger abgeklemmt. Durch das Unterlegen von dünnen Sperrholzstreifen unter die Vorder- oder die Hinterbeine lässt sich die Sitzposition in verschiedenen Neigungen ausprobieren – jedes Grad ist wichtig, wenn es passen soll.

Um lange sitzen zu können

Damit das Blut in den Beinen gut zirkulieren kann, muss auch die Sitzhöhe stimmen. Sie wird von der Mitte der vorderen Sitzkante zum Boden gemessen und beträgt sehr oft ungepolstert rund 450 mm, da das relativ gut mit den gängigen Tischhöhen zusammenpasst. Da die Menschen nicht in einer Normgrösse geboren werden, kann das Ermitteln der perfekten Höhe durchaus etwas schwieriger sein. Das Zusammenspiel von nutzbarer Sitztiefe, -neigung und -höhe ist dafür massgebend. Ein höherer, nach vorne ausladender Stuhl kann noch bequem sein, einer mit starker Neigung nach hinten dagegen eher nicht.

Die Füsse sollten mit Schuhen möglichst flach auf dem Boden stehen können, wenn man die volle Sitztiefe ausnutzt und hinten anlehnt. Kleine Personen rutschen oft nach vorne, sitzen dann aber nicht bequem. Es muss mit aufliegenden Oberschenkeln möglich sein, die Beine auszustrecken sowie die Füsse unter den Stuhl zu nehmen. Stimmt das, kann eine abendfüllende Gesprächsrunde mit Freunden am neuen Tisch vom Schreiner eine sehr schöne Erfahrung sein, die man gerne wiederholt.

Andreas Brinkmann

Veröffentlichung: 12. März 2021 / Ausgabe 10/2021

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