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SchreinerZeitung: Wann wurden Normen in der Schweiz überhaupt ein Thema?
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Werner Frei: Die Schweizerische Normenvereinigung (SNV) wurde 1919, der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) 1837 gegründet. Der SIA befasste sich schon damals mit dem Bauwesen und technischen Aspekten der Eisenbahn. Auch andere Normen-Organisationen haben sich mit Belangen der Bahn befasst, etwa die British Standards Institution, gegründet 1901.
- In welchem Zeitraum gewannen solche Vereinheitlichungen auch im Türenbereich an Bedeutung?
- Türennormen kamen in der Schweiz vor allem im Zusammenhang mit dem Brandschutz auf. Damals haben sich die nationalen Normen in Europa jedoch deutlich unterschieden. In Deutschland enthalten die nationalen Normen für Türen auch standardisierte Abmessungen für Türen. In der Schweiz hat man, wenn möglich, auf Standardmasse verzichtet. Übrigens werden auch in den Europäischen Normen möglichst wenig Masse festgeschrieben, das liegt weiter in der Kompetenz der einzelnen Länder.
- Wie ging es dann weiter?
- 1961 gründete die Schweiz zusammen mit den anderen EWG- und EFTA-Staaten die CEN (Comité Européen de Normalisation). Diese Organisation ist also eigentlich für Europa dasselbe wie die SNV für die Schweiz (siehe Grafik Seite 8). Während der ersten Jahre passierte allerdings noch nicht sehr viel. 1970 begann die europäische Normierung langsam, 1975 bekam CEN den heutigen Namen, und der Sitz wurde von Paris nach Brüssel verlegt. 1981 unterzeichnete man den ersten Zusammenarbeitsvertrag. 1992 regelte man in Rahmenverträgen die Zusammenarbeit zwischen CEN und EFTA. Ein wichtiges Abkommen zwischen der EU und der Schweiz wurde 2008 unterzeichnet, das Mutual Recognition Agreements (MRA). Dieses regelt die gegenseitige Anerkennung der Konformitätsbewertungen und ist Bestandteil der Bilateralen Verträge.
- Die Schweiz ist also Gründungsmitglied der Europäischen Normen-Organisation. Wie gross ist dort unser Einfluss?
- Erst kürzlich war ich in Paris an einer Sitzung mit einer Arbeitsgruppe, in der es um Fluchtwegtüren ging. Das Erstaunliche ist, dass von den 33 CEN-Mitgliedsstaaten, die eigentlich ein Mitspracherecht in diesen Gremien hätten, lediglich acht vertreten waren. Die anwesenden Personen bestimmen den Inhalt der Normentwürfe. Damit ist der Einfluss der Delegierten, die an solchen Sitzungen teilnehmen, sehr gross. Je mehr man sich engagiert, desto mehr Einfluss hat man.
- Gibt es ein konkretes Beispiel, bei dem Sie einen Entscheid noch beeinflussen konnten, damit er nicht zuungunsten der Schweiz ausfiel?
- Ja, beim Einbruchschutz gab es solch einen Fall. Da wollte man in der Norm festhalten, dass im Schliesszylinder ein Bohrschutz integriert werden muss. Nicht alle Schliesszylindertypen eignen sich für solche Einbauten. Gehärtete Stahlteile können elektromechanische Funktionen mechatronischer Schliesszylinder beinträchtigen. Da wir aber in der Schweiz sehr hochwertige und sichere Zylinder haben, kann der Bohrschutz auch über ein Sicherheitslangschild mit Zylinderabdeckung realisiert werden.
- Ohne eine Mitbestimmung kämen Vorgaben auf uns zu, die nicht auf Schweizer Verhältnisse abgestimmt sind?
- Genau, alleine der Vorteil, dass man als Teilnehmer dieser Sitzungen bei der Erarbeitung neuer Normen Jahre im Voraus deren Inhalt kennt, ist unglaublich gross. Man kennt dann auch die Beweggründe, weshalb die verschiedenen Anforderungen in diese Norm aufgenommen worden sind oder nicht, und kann diese Informationen weitergeben. Denn solche Beweggründe sind in der fertigen Norm nicht zu erkennen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Produkte Fenster und Türen und die Beschläge dazu in den einzelnen CEN-Staaten sehr unterschiedlich sein können. Dies führt unweigerlich zu Kompromissen in den Normen. Es kann sich übrigens jeder beim SIA melden, der Interesse an der Mitarbeit in solchen Gremien und Arbeitsgruppen hat.
- Welche Kompetenzen haben die nationalen Normen-Organisationen wie der SIA oder die SNV?
- Die CEN-Länder haben eine Verpflichtung, die Europäischen Normen (EN) in das nationale Normenwesen zu übernehmen, allerdings nicht blind. Was das Bauwesen betrifft, kann der SIA Anwendungsregeln erstellen, und man kann zu jeder EN ein nationales Vorwort und nationale Anhänge verfassen. In diesen Teilen kann die Anwendung bestimmter Klassen festgelegt oder ausgeschlossen werden. Aber ein wichtiger Punkt muss uns bewusst sein: Weder der SIA noch die SNV erstellen Normen, sie organisieren lediglich die Normenarbeit in der Schweiz. Für die eigentliche Normenarbeit braucht es Arbeitsgruppen mit Fachleuten. Bestehen für bestimmte Aspekte keine solche Arbeitsgruppen, werden die betreffenden EN eins zu eins übernommen.
- Wie wird das Engagement in diesen Arbeitsgruppen finanziert?
- Als ich 1982 begonnen habe, war ich in der Empa angestellt, welche auch die Kosten trug. Als ich selbständig wurde, habe ich die Mitarbeit für etwa sechs Monate aufgegeben. Da niemand an meiner Stelle an den Sitzungen teilnahm, habe ich wieder begonnen und die Kosten selbst getragen. Langsam ist aber den Schweizer Verbänden und Organisationen die Wichtigkeit dieser Arbeit bewusst geworden. Mittlerweile übernimmt der SIA in besonderen Fällen die Spesen. Und der VSSM, der VST und die SMU beteiligen sich gemeinsam an den Kosten, welche für die Mitwirkung in Arbeitsgruppen anfallen, die Normen für Fenster, Türen und Tore betreffen.
- Wie gross ist denn der Aufwand für die Teilnahme an so einer Sitzung?
- Der Ort der Sitzungen solcher Arbeitsgruppen (WG) richtet sich nach den jeweiligen Vorsitzenden. WG1-Sitzungen finden vorwiegend in Rosenheim statt. Die WG4/TG10-Sitzungen (Schlösser und Beschläge für Türen in Fluchtwegen) werden in Paris durchgeführt. Die WG1/TG6, zuständig für die Produktnormen Fenster und Türen, trifft sich neu in Dänemark anstelle von Paris, weil der neue Vorsitzende aus Dänemark stammt. Nebst den Spesen ist natürlich der Zeitaufwand gross. Beispielsweise die Sitzungen in Paris zum Thema Fluchttürverschlüsse beinhalten zwei Sitzungstage. Manchmal muss man am Vortag anreisen, und es müssen Hausaufgaben gemacht sowie Berichte erstellt werden. Je einen Tag vor der Sitzung und einen Tag nach der Sitzung muss man da schon einplanen.
Gibt es keinen Topf in der EU, der die Arbeit im Normenwesen mitfinanziert?
Es gibt den Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die Finanzierung der Europäischen Normung. Das betrifft jedoch nur die Grundkosten der Europäischen Normengremien und nicht die eigentliche Normenarbeit der Technischen Komitees (TC). Die nationalen Normengremien sind privatrechtliche Institutionen und finanzieren sich über die Mitgliederbeiträge, den Normenverkauf, Kurse usw. Übernimmt ein Land den Vorsitz eines TC oder einer WG, stellt es auch das Sekretariat und trägt dafür die Kosten.
- Zurück zu den Normen. Welche Themen kommen künftig auf die Türenbranche zu?
- Bezüglich Fenstern, Türen und Toren liegen die notwendigen EN in der nächsten Zeit vor. Alle fünf Jahre werden die Normen aber auf den Stand der Technik hin überprüft. Einige ältere EN müssen dann wieder überarbeitet werden.
- Warum?
- Einige EN sind technisch nicht mehr aktuell, beispielsweise die EN über Durchschusshemmung. In der Klassierung ist noch Munition aufgeführt, die schon längst vom Markt verschwunden ist und für die Prüfung extra hergestellt werden muss. Andererseits bestehen Widersprüche im Inhalt von älteren Normen gegenüber solchen neueren Datums, da müssen viele ältere EN angepasst oder gar zurückgezogen werden.
- Können Sie dafür wieder ein Beispiel nennen?
- Die Europäischen Normen über Schlösser und Beschläge beinhalten eine Dauerfunktionsprüfung bis maximal 200 000 Zyklen, für Türschliesser bis 500 000 Zyklen. Für die Türen geht die Klassierung jedoch bis 1 000 000 Zyklen. Da die Europäischen Normen fast vollständig vorliegen, fallen solche Unstimmigkeiten auf, und sie müssen angepasst werden. Ganz abgeschlossen wird die Normierung also wohl nie sein.
- Normen werden längst als lästiges und notwendiges Übel angesehen. Wo führt das noch hin?
- Ich finde Normen, in denen es nur um Prinzipien geht oder die den administrativen Aufwand erhöhen, ohne einen Nutzen zu haben, ebenfalls ärgerlich. Es gibt aber durchaus Normen, die den Schreiner auf lange Sicht entlasten. Wer zum Beispiel eine Brandschutz- und Fluchtwegtür nach den normativen Vorgaben herstellt, eine Montageanleitung dazu macht und diese einhält, eine Bauabnahme inklusive Protokollierung durchführt und dem Kunden eine Gebrauchs- und Wartungsanleitung abgibt, der ist vor Regressansprüchen geschützt, auch wenn mal etwas passieren sollte.
- Das sollte ja eigentlich auch im Interesse des Kunden sein ...
- Ja, es gibt noch einen weiteren Vorteil für den Kunden und den Schreiner. Korrekte Ausschreibungen sind vergleichbar, sie beziehen sich auf gleiche Anforderungen, und somit sind auch die Preise vergleichbar. Das macht es für die Billiganbieter schwieriger, mit minderwertigen Produkten einen Auftrag zu erhalten. Bei korrekten Ausschreibungen und korrekter Bewertung der Angebote werden Schummeleien schon bei der Auswertung der Ausschreibung entdeckt, spätestens jedoch bei der Qualitätskontrolle auf der Baustelle, wie sie in der VKF-Richtlinie «11-15 Qualitätssicherung» im Brandschutz verlangt wird. Das setzt aber voraus, dass das ganze System der Vorschriften und Normen angewandt wird.
- Sie haben mal erwähnt, dass die Arbeit in der Normen-Welt anstrengender geworden ist. Inwiefern?
- Der Lobbyismus von grossen Konzernen nimmt zu. Wenn ein Produkt eines Unternehmens bestimmte Anforderungen nicht erfüllt, gibt es zwei Möglichkeiten, dies zu ändern. Möglichkeit 1: Das Produkt wird verbessert. Oder Möglichkeit 2: Es wird versucht, die Norm zu ändern.
- Es gab zum Beispiel die Diskussion für die Ermittlung der Schliesskraft. Da die Prüftüren für Schlösser oder Türschliesser keine Dichtungen aufweisen, wurde diese Schliesskraft ohne die Anpresskraft der Dichtung ermittelt. In den überarbeiteten Normen wird diese nun berücksichtigt. Davon waren nicht alle Hersteller begeistert, weil dadurch die Anforderungen stiegen. Solche realitätsfremde Normen zu korrigieren oder zu verhindern, ist äusserst aufreibend.
- Das Endprodukt hält dann nicht, was es verspricht.
- Genau, und irgendwann merkt das auch der Endverbraucher. Das zerstört dann das Vertrauen in die Normen, die Hersteller und die Lieferanten. Ich möchte jedoch noch einmal festhalten: Man hat Einfluss auf die Normen, aber man muss sich halt dafür ins Zeug legen.
Zur Person
Werner Frei hat 1968 seine Lehre als Maschinenschlosser bei der Firma Sulzer in Winterthur abgeschlossen. 1973 kam er zur Empa in Dübendorf und arbeitete dort im Bereich der Prüftechnik. Nach Abschluss der Technikerschule am Abendtechnikum in Zürich baute Frei 1982 an der Empa die Prüfstelle für einbruchhemmende Bauteile auf und begann mit der Arbeit in nationalen und europäischen Normengremien. 1998 kehrte der Fachmann zurück in die Privatwirtschaft und gründete 1999 die Frei Sicherheitsberatung – Technische Beratung. Bis heute vertritt Werner Frei nach wie vor die Schweizer Interessen in verschiedenen Normengremien, die einen Bezug zur Türtechnik haben.
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Veröffentlichung: 01. Oktober 2015 / Ausgabe 40/2015