Hände hoch!

Arbeitshilfen.  Arbeiten über Kopf sollen möglichst vermieden werden. Doch die Decke ist oben und Bausituationen sind, wie sie sind. Der Schreiner kann sich von anderen Branchen inspirieren und unter die Arme greifen lassen.

Über dem Kopf arbeiten ist ein Fluch. Innert kürzester Zeit schmerzen die Schultern, und die Arme werden schwer. Doch der Schreiner kann nicht das Haus auf den Kopf stellen oder eine unzugängliche Nische mal kurz auf die Werkbank legen. Zu- sätzlich zu starken Schultern sind andere Lösungen willkommen.

Erfunden für die Industrie

Auch in anderen Branchen gibt es Arbeit über dem Kopf, zum Beispiel unter Autos auf dem Lift. Um stundenlang die Arme in Position halten zu können, führten die Volkswagen AG Wolfsburg, die Deutsche Sporthochschule Köln und die Prothetik-Firma Ottobock ein Forschungsprojekt durch, aus dem das Exoskelett «Paexo» hervorgegangen ist. Das Ziel des Produktes ist, den menschlichen Körper zu entlasten und gesündere Arbeitsbedingungen zu schaffen.

«Paexo» greift dem Menschen buchstäblich unter die Arme. Der Handwerker zieht sich das Gerüst mit dem exotischen Namen an wie einen Rucksack. Exoskelett heisst Aussenskelett. Es kommt besonders dort infrage, wo andere technische Hilfsmittel nicht eingesetzt werden können.

Zwischen Rucksack und Roboter

Es gibt zwei Arten von Exoskeletten: passive und aktive Modelle. Passive Exoskelette wie zum Beispiel «Paexo» unterstützen einzelne Körperteile bei bestimmten Haltungen und Bewegungen auf mechanische Weise – zum Beispiel durch das Zusammenspiel von Federn oder Gummizügen. Das heisst, die passiven Exoskelette benötigen keine Energiezufuhr, sie sind nur 1,9 Kilogramm leicht und einfach in der Hand- habung. Man schlüpft hinein, zieht die Manschetten mit den Hilfsbügeln um die Oberarme und schliesst den Hüftgurt.

Aktive Exoskelette sind entweder elektrisch durch Akku oder eine direkte Stromversorgung oder pneumatisch durch Druckluft angetrieben. Mittelkomplexe Varianten unterstützen die Bewegung einzelner Körperregionen wie den Rücken beim Heben schwerer Gegenstände. Komplexe Exoskelette unterstützen mehrere Körperregionen bis hin zum ganzen Körper. Sie können sogar Querschnittgelähmten ermöglichen, zu stehen und zu gehen (siehe Kasten «Exoskelett für Behinderte»). Diese Modelle basieren auf komplexen, mechatronischen Steuerungsmechanismen sowie Sensoriksystemen.

Häufigster Grund für Arbeitsunfähigkeit

Das Heben und Tragen schwerer Lasten oder die anstrengende Überkopfarbeit führen zu Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems. Sie sind in der Schweiz der häufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Und damit ein bedeutender Kostenfaktor für Unternehmen und die Gesundheitssysteme. Denn solche Erkrankungen ziehen aufwendige Behandlungen oder teure Rentenzahlungen nach sich.

Gestaltung der Arbeitsbedingung

Das ist auch das Revier der Schweizerischen Unfallversicherung Suva. Angefragt, was sie von den Exoskeletten hält, lautet die offizielle Antwort: «Unter den bei uns bekannten Modellen gibt es keines, das die Anforderungen an ergonomische Bedürfnisse vollumfänglich befriedigt.» Die Suva bemängelt, dass sie nur umständlich an alle Personen im Betrieb anpassbar sind, dass sie den Bewegungsfreiraum einschränken und vor allem: Sie erzwingen unnatürliche Bewegungsmuster wie beispielsweise die Schulterrotation ausserhalb der natürlichen Achse. Besonders der letzte Punkt ist gut nachvollziehbar, und man darf sich fragen: Soll der Mensch eine körperliche Arbeit verrichten, die für seinen Körper zu mühsam ist? Und wo ist die Grenze zwischen mühsam und ungesund?

Die Suva verfolgt die Entwicklungen der Exoskelette sehr genau und begrüsst es, dass in diesem Bereich weiter geforscht wird. «Noch wichtiger als die Exoskelett-Entwicklung ist aus unserer Sicht, dass die Arbeitsbedingungen so gestaltet werden, dass so wenig wie möglich über Kopf gearbeitet werden muss.»

Zurück auf den Boden der Tatsachen: Die Decke ist immer noch oben. Und ein Blick auf die Statistik zeigt, dass der Schreiner von Verletzungen des Rückens und der Schulter stark betroffen ist. In einer Hochrechnung hat die Suva festgestellt, dass am Bau die Hälfte der Rücken- und Schulterverletzungen die Schreiner betreffen (siehe Tabelle). Zu bedenken gilt, dass dies die gemeldeten Unfälle über fünf Jahre sind. Die Suva verweist in diesem Zusammenhang auf die Broschüre «Zehn lebenswichtige Regeln für den Holzbau», die sie zusammen mit dem Branchenverband erarbeitet hat. «Werden diese Regeln konsequent eingehalten, können viele schwere und tödliche Unfälle verhindert werden», sagt der Sprecher der Versicherung.

Und immer noch ist die Decke oben und starke Arme sind gefragt. Das Unternehmen Finger-Haus mit Sitz in Frankenberg (D) zum Beispiel baut Fertighäuser und stellt seinen Malern Exoskelette zur Verfügung. Die Handwerker sind von der Anwendung begeistert (siehe Interview, rechte Seite). Exoskelette können Verletzungen vorbeugen, und besonders junge Menschen profitieren davon, wenn arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen gar nicht erst eintreten.

Das Exoskelett «Paexo Shoulder», das die Maler von Finger-Haus tragen, entlastet die Schultergelenke und Oberarme bei Tätigkeiten mit erhobenen Armen, zum Beispiel bei der Überkopfarbeit, wie sie auch Schreiner, Monteure und Elektriker verrichten müssen. Der Mitarbeiter trägt das Exoskelett – ähnlich wie einen Rucksack – eng am Körper. Das Gewicht der erhobenen Arme wird über die Armschalen mithilfe einer mechanischen Seilzugtechnik auf die Hüfte abgeleitet, was die Muskeln und Gelenke im Schulterbereich spürbar schont. Auf diese Weise reduziert das Gestell die physische Beanspruchung.

Tests in Fabriken

Der Einsatz des Exoskeletts ist noch nicht sehr verbreitet. Vereinzelt werden die Hilfen in Handwerksbetrieben und Logistikunternehmen, bei Automobilherstellern und in Flugzeug- und Schiffswerften eingesetzt. Volkswagen testet in der Slowakei zurzeit 30 Exoskelette. Mitarbeiter in der Endmontage tragen das «Gstältli» für einen Langzeittest. Nach der Auswertung entscheidet das Unternehmen, ob es weitere Exoskelette anschafft. Das «Paexo Shoulder» kostet rund 4900 Euro. Mengenpreise und Leasing sind möglich. Bei Ottobock kann man ein Exoskelett ausprobieren. Bislang gibt es keine Unterstützung durch eine Versicherung oder Ähnliches.

www.paexo.comwww.suva.ch

SL

Veröffentlichung: 09. April 2020 / Ausgabe 15/2020

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