Ist das Kunst, oder darf ich mich setzen?

Auf das Schwein gekommen in Form eines Hockers, der auch zum Spielen und Liebhaben erdacht wurde: «Still lives» von Kraud. Bild: Kraud

Möbelentwürfe.  Möbel zwischen Design und Kunst faszinieren Erschaffer und Betrachter. Die Herangehensweise bei den Entwürfen könnte aber unterschiedlicher nicht sein, wie einige Beispiele zeigen. Gleichzeitig ist das Ganze auch ein Markt, aber kein einfaches Feld.

Manchmal muss man zweimal hinsehen. Und trotzdem erschliessen sich einem auch auf den zweiten Blick nicht wirklich die üblichen Kategorien von Funktion, Zweck oder einfach der Gedanke hinter dem, was man sieht. Gleichwohl ist das betrachtete Objekt einzuordnen, nur irgendwie anders. Möbel, bei denen man nicht genau weiss, ob man sie auch wirklich benutzen soll. Stücke, die zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk rangieren, ohne dabei etwa nur durch eine protzige Materialisierung den Eindruck von Luxus verkörpern zu wollen.

Von Letzteren gibt es immer mehr an den einschlägigen Messen zu sehen, wohl auch, weil Kunden in den sogenannten Schwellenländern ihrem Reichtum gerne Ausdruck verleihen möchten. Denn dabei geht es um Marken und um das «Sein». Wichtig ist bei diesen Produkten, dass Aston Martin darauf zu lesen ist, Versace, oder zumindest Boco do Lobo. Wobei – in letztem Fall handelt es sich um einen Möbelbauer – freilich keinen Gewöhnlichen.

Aber auch eine ganz andere Kategorie scheint ihre Nische zu finden: Möbel, handwerklich gefertigt, hochwertig und hochpreisig, die anders daherkommen, als ob Möbeldesigner und Künstler in einer Person am Werk gewesen wären.

Natürlich sind die Grenzen zwischen den Disziplinen fliessend. Vor allem, wenn noch weitere Aspekte mit ins Spiel kommen, wie etwa das kunsthandwerkliche Schaffen. Und doch fällt auf, dass es immer mehr Entwürfe gibt, bei denen ein gewisser «Mehrwert» über das Design hin zur Kunst generiert wird. Dieser Zusatznutzen kann witzig sein, oder es wohnt ihm ein bestimmtes, vielleicht auch ernstes Anliegen inne, eine Botschaft wie bei einem Kunstwerk. In jedem Fall handelt es sich um Entwürfe, bei denen ein offenkundiges Doppelleben gewollt ist.

Mit dem «Designers’ Saturday», der alle zwei Jahre in Langenthal BE stattfindet, hat die Schweiz einen vielleicht einzigartigen Event, der dieses spannende Thema aufgreift. Denn die Veranstaltung ist keine Produktshow von Designschaffenden, sondern eine Bühne, auf der diese ihre Fähigkeiten künstlerisch inszenieren und ihr Schaffen aus dem Alltagskontext herausheben.

Stubenreines Haustier

Eigentlich ist es ein Hocker. Aber auch ein Spielgerät und ein Kunstobjekt: Die Schweinefamilie «Still lives» von Yvonne Fehling und Jennie Peiz mit ihrem Label Kraud trägt die typische Chesterfield-Polsterung von Sitzmöbeln, die es trotz der ungewöhnlichen Form klar als solche identifiziert. Selbst bezeichnen Fehling und Peiz ihren Entwurf durchaus schlicht als «Einrichtungsgegenstand». Aber auch als «Spielzeug, Luxusgut, Skulptur, Kuscheltier, Turngerät und Projektionsfläche».

Den klassischen Designbegriff lustvoll etwas zu strapazieren, war durchaus gewollt. Im Gegensatz zu anderen Entwürfen solcher Art, wie zum Beispiel das Sperrholz-Spielzeug «Elephant» von Eames, sind die Schweine lebensgross und haben eine natürliche Gestalt. «‹Still lives› entziehen sich bewusst jedem Terminus. Das hat etwas Irritierendes und auch etwas Befreiendes. In jedem Fall sind sie ein willkommener Ausfallschritt in eine unerwartete Richtung», so die Designerinnen. Das Ferkel kostet umgerechnet etwa 2000 Franken. Erwachsene Tiere liegen bei über 6000 Franken.

Zum Begreifen

«Dear Disaster» nennt die schwedische Designerin Jenny Ekdahl ihr Kabinettschränkchen, in das sie ganz viel Philosophie und Liebe gesteckt hat. Die Front des Gestellmöbels trägt viele Klaviersaiten in sich. Daran hat sie etwa 2000 mehrfarbige und bewegliche Holzplättchen platziert, mit denen der Benutzer spielen kann. Leicht umzuklappen, entstehen so permanent neue Bilder auf der Front. Während die Farbauswahl und Platzierung unregelmässig erscheint, ist die Rückseite eines jeden Plättchens hölzig. Stehen alle Teile auf Holz, hat man gewissermassen den Nullpunkt. Und darum ging es Ekdahl. Auch nach katastrophalen (Natur-)Ereignissen neue Kraft und Mut zu schöpfen. Jeder kann an den Schrank treten, gestalten und sein persönliches Bild hinterlassen, bis dieses wieder durch Umgestaltung «vergeht». Eben ganz wie in der Natur auch.

Für manchen mag das Ganze etwas hochgestochen klingen, aber der Entwurf hat nicht nur viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erlangt, er stellt auch das Prinzip der Nachhaltigkeit auf besonders spielerische und leichte Art dar. Entwürfe, die ein ernsthaftes Anliegen haben bei gleichzeitiger normaler Funktion des Möbels und der Einladung, lustvoll damit umzugehen, das gelingt so stimmig wie bei «Dear Disaster» doch eher selten.

Weites Echo

Das Schweizer Designerinnen-Duo Tina Stieger und Annina Gähwiler hat mit seinen drei Möbeln der prämierten Kollektion «Echos» interessante Erfahrungen gesammelt. Die Möbel greifen traditionelle Handwerkstechniken aus der Schweizer Alpenregion wie das Schindelmachen, das Schnitzen und das Klöppeln auf. Zunächst 2007 als Einzelstücke im Rahmen eines Wettbewerbes der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefertigt, zeigten sich später vor allem die beiden Modelle «Ehrfurcht» und «Neugierde» als besonders gefragt bei den Betrachtern. Mutmasslich, weil die beiden Modelle vom «normalen» Gebrauchsentwurf eines solchen Korpusmöbels am stärksten abweichen. «Ehrfurcht» hat einen durchbrochenen Korpus aus massivem Arvenholz mit einem geschnitzten Innenleben, das wie ein Bergkristall ausgearbeitet ist. Aussen bildet der hochglänzende Polyesterlack einen wirkungsvollen Kontrast. Bei «Neugierde» öffnet sich das Möbel durch Verschieben von Elementen in der «Schindelfassade». Die beiden Prototypen wurden kurzerhand im Rahmen der Präsentation am Designfestival in London ein Jahr später verkauft. Mit ihrem Label «Pour les Alpes» haben die beiden Designerinnen sodann eine kleine, limitierte Auflage der beiden Entwürfe von sechs und zwei Stücken angedacht.

Etwas verstörend

Bei der italienischen Premium-Möbelmanufaktur Emmemobili liebt man es, mit Kontrasten und Brüchen zu arbeiten. Die speziellen Stücke finden ihren Platz neben den braveren Kollektionsentwürfen, die aber auch ein Stück dieses Geistes in sich tragen. Das Sideboard «Evolution» etwa vereint historisches mit zeitgemässem Design und Handwerkskunst in sich. Die Botschaft dahinter: Alles ist möglich, und zwar durch das Unternehmen. Wer sich nicht entscheiden kann zwischen alt und neu, der kann auch beides auf einmal haben.

Ewiger Moment

Kein Möbel, noch nicht einmal eine wirklich gebrauchstüchtige Leuchte, und doch ein wirkungsvolles Element im Raum: «Tampopo» vom japanischen Künstler Takao Inoue illuminiert die «Pusteblume» des Löwenzahns. Die äusserst vergänglichen Stücke giesst Inoue dazu in ein Harz. Wie genau er das macht, ohne den fragilen Weggefährten dabei zu zerstören, bleibt sein Geheimnis. Bekannt dagegen ist, dass die OLED-Technik dafür sorgt, dass der kleine Quader zur Lampe wird. Der gelernte Kameramann Inoue will so den Augenblick konservieren, um sich immer wieder daran – und sei es auch nur für einen Augenblick – erfreuen zu können. Der Lichtblick von 9,5 Zentimetern Höhe kommt auf umgerechnet knapp 800 Franken.

Kunstfertig behauen

«Atelier» nennt Francesca Zani von Habito die Werkstatt von Giuseppe Rivadossis Label auch heute noch. Altmeister Rivadossi hat früher einfach unter seinem Namen firmiert, Skulpturen in Holz gehauen und in Museen ausgestellt. Der Künstler hat aber auch immer Möbel mit ähnlicher Herangehensweise gemacht. Heute arbeiten seine beiden Söhne im Unternehmen mit, das kunstvolle Behauen von Holz ist geblieben. Mit «Habito» hat die nächste Generation 2013 ein Label geschaffen, unter dem das Unternehmen sich vor allem auf die Ausstattung mit Solitärmöbeln von privaten und öffentlichen Räumen konzentriert.

Das Besondere an den Artefakten ist die Schaffung von blockweise wirkenden Korpussen, die am Ende virtuos von Hand behauen werden. Heute werden dazu druckluftbetriebene Schnitzeisen eingesetzt. Eine gleichermassen kunsthandwerkliche wie schweisstreibende Leistung bleiben die Arbeiten trotzdem. Kein Stück ist wie das andere, auch wenn die Kollektion reproduziert wird. Der Unterschied liegt in der Hand des Künstlers und Handwerkers und natürlich im Auge des Betrachters.

www.bocadolobo.comwww.designerssaturday.chwww.kraud.dewww.stoft-studio.comwww.pourlesalpes.chwww.emmemobili.itwww.takaoinoue.comwww.habito-gr.it

ch

Veröffentlichung: 25. August 2016 / Ausgabe 34/2016

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