Neue Töne aus Davos

Eine von vielen Besonderheiten: die zweifarbigen Tasten des «Rätia 132». Bild: Piano Rätia

Klavier.  Im bündnerischen Davos wird nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Musikgeschichte geschrieben. Zwei lokale Klavierbauer sind gerade daran, mit dem ersten Schweizer Klavier seit über 25 Jahren die Welt zu erobern. Ein Besuch bei Piano Rätia.

Dass die beiden zusammen ein Klavier bauen würden, wussten sie schon während der Lehrzeit: Janos Horváth und Florian Kamnik absolvierten vor 30 Jahren die Ausbildung zum Klavierbauer und verloren ihr Ziel nie aus den Augen. Nach verschiedenen Stationen als Klavierbauer bei namhaften Herstellern wie Bösendorfer, Steinway und Bechstein und dem Aufbau ihres eigenen Betriebs – Piano Rätia in Davos – entschlossen sie sich vor sieben Jahren, nicht länger nur Klaviere zu stimmen und zu revidieren. Sie wollten ein eigenes komplett in der Schweiz gefertigtes Klavier entwerfen und bauen. Dazu muss man wissen, dass die Schweizer Klavierlandschaft seit den Neunzigerjahren eine Ödnis ist, karg, traurig und verlassen. Einst stolze Anbieter wie Schmidt-Flohr oder Burger & Jacobi haben sich allesamt ins Abseits manövriert, indem sie versuchten, billig zu produzieren und so den Japanern und den Chinesen die Stirn zu bieten.

Mit dem befreundeten Klavierbaumeister Jean-Christoph Hannig konnten Horváth und Kamnik einen Konstrukteur mit Fähigkeiten im 3D-CAD-Zeichnen mit ins Boot holen. Zu dritt gelang das Ungewöhnliche. Und nun ist es da, das «Rätia 132» – das heisst: der Prototyp und die ersten zwei Exemplare einer Dreierserie, die dieses Jahr in Europas höchstgelegener Klavierbauwerkstatt fertiggestellt werden soll.

Das einzige Schweizer Klavier

«Wenn wir uns schon an die Produktion des einzigen Schweizer Klaviers wagen, dann machen wir es doch gleich richtig», haben sich Kamnik, Horváth und Hannig gesagt. Bei dieser Gelegenheit haben sie einige Details überdacht, mit ein paar Traditionen gebrochen – und zusammen 65 Jahre Erfahrung in die Konzeption und Produktion einfliessen lassen. Wie soll das Klavier aussehen? Muss es immer schwarzer Hochglanz-Polyesterlack sein?

Muss es nicht: Der Prototyp des «Rätia 132» kommt in Ahorn mit Nussbaum-Verzierungen daher, denkbar wäre auch Olivenfurnier oder schlicht eine andere Farbe als Schwarz. Wenn es ums äussere Erscheinungsbild geht, kommt den beiden Klavierbauern ihre Arbeitsweise entgegen: Das Innere des Klaviers wird unabhängig vom «Möbel», wie sie es nennen, gebaut. Die Mechanik, der Saitenrahmen und die restlichen Innereien ruhen bis zur Fertigstellung in einem Dummy-Gehäuse, so kann der Look des Gehäuses auch kurzfristig bestimmt werden. Als weiterer Vorteil führt dies zu einem geringeren Lagervolumen.

Partnerschaft mit Holzbauer

Apropos Möbel: Die Holzarbeiten für das «Rätia 132» – die Typenbezeichnung bezieht sich übrigens auf die Masse des Saitenrahmens – werden von der Künzli Holz AG übernommen. Künzli ist auf demselben Areal in Davos daheim – eine Nähe, die sich auszahlt, können allfällige Probleme doch unkompliziert, quasi auf dem kurzen Dienstweg, gelöst werden.

«Hansjörg Künzli hat viel Know-how aus dem Möbel- und Fensterbau eingebracht», sagt Janos Horváth. So werden in den Deckeln über der Klaviatur und oben am Gehäuse zum Beispiel stabile, aber elegante Fensterbänder verbaut statt der herkömmlichen durchgehenden Klavierbänder mit unzähligen Schrauben.

Nur das Beste ist gut genug

Beim Bau ihres Klaviers verfolgten die drei eine klare Devise: Sie wollten das Beste aus dem Handwerk mit dem Besten aus der maschinellen Fertigung zusammenbringen – Stichwort CNC. Dazu sollten nur die besten Teile verbaut werden. Das beginnt – natürlich – beim Holz: Das Fichtenholz für den Resonanzboden des «Rätia 132» stammt aus Italien, genauer gesagt aus dem Val di Fiemme. Aus dieser Region bezog auch Antonio Stradivari das Holz für seine legendären Geigen. «Es kann gut sein, dass unser Holz sogar aus demselben Wäldchen stammt wie die Fichten für Stradivaris Instrumente», sagt Janos Horváth verschmitzt.

Die trockene Höhe, in der die Rätia-Pianos gebaut werden, kommt ihren Machern zugute: Das Holz trocknet schnell und ohne künstliche Hilfsmittel, was später – im Unterland oder sonstwo auf der Welt – einen positiven Einfluss auf die Stabilität des Instruments hat. Ein bisschen quellen schadet in diesem Fall weniger als schwinden.

Das «Rätia 132» besteht zur Hauptsache aus Fichte, es werden aber auch Ahorn, Buchs, Ebenholz, Nussbaum und sogar ungewöhnliche Holzarten wie Mehlbeere verarbeitet. Je nach Kundenwunsch kommen auch besondere Furniere zum Einsatz, etwa solche aus dem bereits erwähnten Olivenholz.

Der beste Stahl der Welt

Für die mechanischen Teile ihres Klaviers vertrauen die drei Klavierbauer auf die Qualitätsprodukte ausgewählter Zulieferer. So wird der Graugussrahmen, in dem die Saiten aufgespannt sind, von einer Firma in Deutschland hergestellt. In Quarzsand gegossen, hat der Rahmen zwar eine etwas gröbere Struktur als industriell hergestellte Rahmen, dafür hält er wesentlich mehr Zug aus. Bei diesem Klavier sind dies immerhin über 20 Tonnen, also etwa 100 Kilogramm pro Saite. Die Besonderheit dabei: Besagter Zulieferer darf als einziger Betrieb alte Schienen der Deutschen Bahn zu neuem Guss verarbeiten. «Der Stahl, der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland verarbeitet wurde, gilt als der beste der Welt und ist entsprechend begehrt», sagt Janos Horváth. Ist der Rahmen gegossen, wird er per CNC nachbearbeitet, damit alles auf den Millimeter-Bruchteil genau passt.

Ein weiterer Vorteil dieses Verfahrens ist das Ausschalten von Eigenfrequenzen, zu denen grossindustriell gegossene Rahmen laut Horváth neigen.

Freie Schwingungen

Der Rahmen wird nicht zuletzt deshalb genau nach den Bedürfnissen von Piano Rätia gegossen, weil das Klavier vier Tasten mehr hat als konventionelle Pianos, also 92 statt 88. Dies führt neben dem erweiterten Umfang auch zu einem besseren Klang, weil das so wichtige und am meisten genutzte Tenor-Register des Klaviers etwas anders über dem Resonanzboden zu liegen kommt. Auch der Resonanzboden, das eigentliche Herz des Klaviers, wird von der Firma Künzli per CNC gefräst.

Die Krümmung des aus verleimtem Bergfichtenholz bestehenden Resonanzbodens entspricht dem Segment einer Kugel mit 60 Metern Durchmesser. Sie entsteht nicht durch das sonst übliche Hineinzwängen des Resonanzbodens, sondern wird von Anfang an ins Holz gefräst. Dies hat zur Folge, dass der Resonanzboden frei schwingen kann, ohne den Ton abzuwürgen.

Die Rippen auf der Rückseite des Resonanzbodens unterstützen die Schwingung zusätzlich. Und in der Tat, das «Rätia 132» verfügt nicht nur über einen grossen Ton, es klingt auch sehr lange aus.

Jede Saite für sich

Auf der Suche nach dem perfekten Ton haben sich Hannig, Horváth und Kamnik Gedanken über zahllose Details gemacht.

So ist etwa die Mensur jeder einzelnen Saite, also der schwingende Bereich der Saite, viel genauer eingestellt als bei einem herkömmlichen Klavier. Diese immens aufwendige Bauweise ermöglicht eine genauere Stimmung des Instruments, was wiederum zu weniger Interferenzen und somit zu einem ausgewogeneren, volleren Klang führt. Interessanterweise handelt es sich bei all diesen «Innovationen nicht etwa um Geheimnisse: Die grossen international bekannten Hersteller haben Angst vor Innovation, weil sie glauben, die Leute würden ihre Produkte dann nicht mehr kaufen», ist Janos Horváth überzeugt. Ein Umstand, der Piano Rätia in die Hände spielt.

«Wir wollten, ähnlich wie etwa Hublot-CEO Jean-Claude Biver, weg vom Billigen, hin zu absoluter Qualität, die natürlich auch ihren Preis hat», sagt Horváth. Und ist überzeugt: «Für hochwertiges Schweizer Handwerk gibt es auch einen Markt.»

Im Falle des «Rätia 132» liegt der Preis bei ungefähr 45 000 Franken. Eine Investition, die wohlüberlegt sein will – die sich aber lohne, so Horváth: «Wir gehen davon aus, dass unsere Klaviere 100 Jahre alt werden – so gesehen ist das Geld gut investiert.»

Probieren geht über studieren

Bei allem Innovationsdrang: Nicht jede Idee, welche die drei hatten, konnte realisiert werden, denn auch beim Klavierbau prallen Vision und Physik aufeinander. «Ein Klavier ist wie ein Mobile», sagt Horváth. «Man muss die einzelnen Bereiche ausreizen, ohne dass der Einfluss auf die anderen Komponenten nachteilig ist.» Und: Vieles gehe nach Gefühl und nicht immer nach exakter Vorgabe. Man müsse ausprobieren. «Das mussten auch unsere Freunde von der Künzli Holz AG lernen. Oft haben wir einfach gesagt: ‹Macht mal, wir schauen dann› – das war neu.»

Nicht mit allen Zulieferern läuft es so geschmeidig wie mit der Künzli Holz AG, der deutschen Giesserei sowie dem Unternehmen, das die ganze Mechanik baut, ebenfalls ein deutscher Betrieb. So mussten etwa bestimmte Torx-Schrauben extra im Fürstentum Liechtenstein eingekauft werden, weil der hiesige Vertrieb nicht an Kleinmengen interessiert ist. Dies zeigt sich auch bei verschiedenen Lacken: «Es kann nicht sein, dass unser polnischer Kollege einen Lack bestellt und diesen zwei Tage später geliefert erhält, während es beim Schweizer Vertrieb heisst, dieses Produkt gebe es gar nicht», sagt Florian Kamnik.

Blick in die Zukunft

Allen Widrigkeiten zum Trotz – irgendwann kommt er, der schönste Moment im Leben des Klavierbauers: Die 12 000 Einzelteile sind dort, wo sie hingehören, die Saiten sind aufgezogen und klingen zum ersten Mal. «Das ist ein aufregender Moment», sind sich alle im Team einig.

Das erste Modell der 132er-Serie hat diesen Moment hinter sich und wird demnächst an die Zürcher Hochschule der Künste geschickt, wo es von Professoren und Studierenden auf Herz und Nieren getestet werden wird. Das nächste Ziel ist, dereinst auch einen Flügel zu bauen und so die Konzertsäle der Welt zu erobern.

www.pianoraetia.ch

AR

Veröffentlichung: 31. August 2018 / Ausgabe 32-33/2018

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