Sprung in neue berufliche Gewässer

Waghalsiger Sprung: Idealerweise bringen Quereinsteiger in den Schreinerberuf bereits erste Erfahrungen mit Holz und handwerk-liches Geschick mit. Bild: Fotolia

Neuorientierung.  Immer wieder wagen Berufsleute aus anderen Branchen den Quereinstieg in den Schreinerberuf. Was bewegt sie zu diesem Schritt? Wie erleben sie den Berufswechsel? Und welche Herausforderungen gilt es für die Quereinsteiger zu meistern?

«Vor vier Jahren kam ich zum Schluss, dass ich es mir nicht vorstellen konnte, die kommenden 25 Jahre weiterhin in einem Büroberuf zu arbeiten. Zugleich wurde mein Vater 65 Jahre alt, und so bot sich mir die grosse Chance, in unserer familieneigenen Schreinerei mein eigener Chef zu werden», erzählt Rico Garzotto aus Zürich.

Studium, Beruf und die Schreinerei

Sein beruflicher Werdegang führte den heute 44-Jährigen nach der Grundschule und dem Gymnasium an die ETH Zürich, wo er Betriebswissenschaften studierte und als Betriebsingenieur abschloss. Dann folgten Berufsjahre als Leiter der Werksmontage in einer Maschinenfabrik, später baute er für ein christliches Hilfswerk den Personalbereich auf und leitete diesen acht Jahre lang. Neben Studium und Beruf zog es Rico Garzotto jedoch immer wieder in die elterliche Schreinerei, wo er teilweise selber Hand anlegte. Zudem half er beim Aufbau einer Schreiner-Lehrwerkstätte in Moskau mit.

«Ich bin in einer Handwerkerfamilie aufgewachsen. Die Freude am Schreinerberuf wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt. Mit 40 fällte ich den Entscheid, ebenfalls Schreiner zu werden», schildert Rico Garzotto die Vorgeschichte seines späten Quereinstiegs in die Schreinerbranche. Er habe sich zwar nicht vor einem weiteren radikalen Berufswechsel gefürchtet, sich die Sache aber trotzdem gründlich überlegt. «Mir war es wichtig, dass meine Ehefrau und meine Kinder mich in diesem Aufbruch unterstützten», betont Rico Garzotto.

Noch einmal ganz von vorne beginnen

Aufgrund seiner Vorbildung und Erfahrungen konnte der Betriebsingenieur eine verkürzte Lehre von drei Jahren als Möbelschreiner absolvieren. «Neben meinem vollen Arbeitspensum im Betrieb büffelte ich Berufskunde, Zeichnen und Fachrechnen. Daneben habe ich versucht, meine sechsköpfige Familie nicht allzu kurz kommen zu lassen. Besonders die Teilprüfung war ein tierischer Stress, da kann ich mit jedem Lernenden mitfühlen. Eine spezielle Erfahrung waren sicherlich auch die überbetrieblichen Kurse, die ich zusammen mit Teenagern absolvierte», so Rico Garzotto. Was waren für ihn die grössten Herausforderungen seines Quereinstiegs? «Quer einsteigen heisst, noch einmal ganz vorne zu beginnen. Die bisherige Identität, Sicherheit, berufliche Routine, Kompetenz usw. entfallen von einem Tag auf den anderen. Genau wie jeder andere Lernende musste ich üben, wiederholen, Ausschuss produzieren und wieder üben. Dazu waren in der ersten Zeit der körperliche Einsatz, die langen Arbeitswege und die vielen Stunden als S-Bahn-Pendler gewöhnungsbedürftig.»

Studium, Schnupperlehre, Ausbildung

Mit dem Handwerksgen im Blut wagte auch Michèle Jäggi aus dem solothurnischen Fulenbach den Quereinstieg in den Schreinerberuf. Ihr Vater führt ein Maler- und Gipsergeschäft. In der privaten Werkstatt ihres Grossvaters entdeckte die heute 38-Jährige ihre Liebe zur handwerklichen Arbeit, vor allem mit Holz.

Zuerst verschlug es Michèle Jäggi jedoch an die Universität, wo sie Geschichte und Kunstgeschichte studierte. Danach arbeitete sie unter anderem für das Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) und verfasste einen Kunstführer. «Der Gedanke, eine Ausbildung im Handwerksbereich zu machen, liess mich seit dem Studium nicht mehr los», erinnert sich Michèle Jäggi. 2002 absolvierte sie zwei Schnupperlehren in Schreinereien. Ausserdem sammelte sie an der Zürcher Schule Viventa in Holzbearbeitungskursen praktische Erfahrungen im Umgang mit Holz. Als sich aufgrund der sitzenden Tätigkeit im Büro Rückenprobleme bemerkbar machten, entschloss sich Michèle Jäggi zu einer Lehre als Schreinerin.

Nicht immer einfach

Wie hat die damals 35-Jährige mit dem doch ziemlich abwechslungsreichen beruflichen Werdegang ihren Quereinstieg erlebt? «Es war für mich nicht immer einfach, obwohl ich natürlich wusste, auf was ich mich einliess, schliesslich war mir der Handwerkerberuf vom väterlichen Geschäft her bekannt. Doch die neue Rolle als Lernende auf der untersten Stufe der Hierarchie war für mich ungewohnt. Schliesslich war ich es bis dahin gewohnt, selbständig zu arbeiten», schildert Michèle Jäggi ihre Eindrücke. Vor allem die Tatsache, immer wieder auf Hilfe des Lehrmeisters angewiesen zu sein und wegen Kleinigkeiten seinen Rat einzuholen, habe ihr Mühe bereitet. «Ich wollte von Anfang an alles perfekt machen. Dabei war mir zu wenig bewusst, dass man als Lernende auch Fehler machen darf und soll.» Im Sommer 2012 schloss Michèle Jäggi ihre Schreinerlehre mit der Note 5,3 ab. Mittlerweile hat sie die Fronten zwar gewechselt und arbeitet wieder als Kunsthistorikerin für das ISOS, wo man ihr die alte Stelle angeboten hatte. Das Schreinern möchte Michèle Jäggi jedoch nicht aufgeben und mindestens in der Freizeit weiter ausüben.

Kompetenzen implementieren

Doch wie gut eignet sich der Schreinerberuf für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger? «Am einfachsten, aber auch interessantesten ist es, wenn Quereinsteiger gar nicht so quer sind und zum Beispiel aus der Planung anverwandter Berufe kommen. Dann können viele Kompetenzen in das Schreinerumfeld implementiert werden», sagt Bruno Krucker, Leiter der Höheren Fachschule Bürgenstock. Dabei gelte es zu unterscheiden, ob eine künftige Arbeitsstelle eher auf einer gestalterischen und verkaufsorientierten Funktion beruhe, oder ob die konstruktive und produktionsorientierte Tätigkeit im Vordergrund stehe. «In der Produktion ist das Schreiner-ABC nach wie vor sehr gefragt und absolut notwendig – auch für Quereinsteiger», betont Bruno Krucker.

Vor allem in Betrieben mit 15 und mehr Mitarbeitenden sei eine differenziertere Aufgabenteilung eher möglich als in Klein- und Kleinstbetrieben, wo die Mitarbeiter meist als Allrounder tätig sind. Die HF Bürgenstock sowie andere Weiterbildungsstätten bieten verschiedene Kurse an, die Quereinsteigern spezialisierte Tätigkeiten in der Schreinerbranche ermöglichen. Dazu gehören auch Seminare im gestalterischen und verkaufsorientierten Bereich wie zum Beispiel Feng Shui und Raumgestaltung, Know-how im aktuellen Küchenbau, Kundenführung oder Verkaufstraining.

Gefragte Fachleute

Wer das Schreinerhandwerk von Grund auf erlernen möchte, kann als Quereinsteiger eine verkürzte Schreinerausbildung während dreier Jahre absolvieren. «Wir haben immer wieder Quereinsteiger in unserer Berufsbildung. Vielfach sind das Personen, die bereits vorher mit Holz zu tun hatten und ein gewisses handwerkliches Geschick mitbringen. Das ist für diese Ausbildung sicher eine wichtige Voraussetzung», betont Romain Rosset, Leiter Berufsbildung beim Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten (VSSM).

Auch wenn die Hemmschwelle, nochmals als Lernende in einem neuen Beruf anzufangen, gross sei, bringen die Quereinsteiger meist eine hohe Motivation sowie wertvolle Arbeits- und Lernerfahrungen mit. «Diese Leute sind für unsere Branche wertvoll und auf dem Arbeitsmarkt angesichts des Fachkräftemangels gefragt», ist Romain Rosset überzeugt.

Nicht nur Biss, sondern auch viel Geduld

Ein bisschen verrückt müsse man als Quereinsteiger schon sein – besonders im fortgeschrittenen Alter, räumt Rico Garzotto ein. «Es hilft, wenn man als Quereinsteiger ein grosses, motivierendes Ziel, wie zum Beispiel die berufliche Selbständigkeit, vor Augen hat.»

Um die anfangs «täglichen Frustrationen» zu überwinden, benötigt man laut Rico Garzotto nicht nur Biss, sondern auch Geduld mit sich selber. «Man muss akzeptieren kön-nen, dass Veränderung Zeit braucht.»

www.garzotto-ag.chwww.hfb.chwww.schreiner.ch

FM

Veröffentlichung: 13. Dezember 2012 / Ausgabe 50/2012

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