Von der Schulbank zur Hobelbank

KI-Bild: Michi Läuchli/ChatGPT

Nach Matura, Zivildienst und Studienabbruch führt ein unkonventioneller Weg in die Schreinerlehre – geprägt von Neugier, Tatkraft und der Suche nach einem sinnstiftenden, praktischen Beruf.

Normalerweise beginnt die Berufslehre nach den Sommerferien. Normalerweise. Lorin Hählen aus Spiez im Kanton Bern startete seine Schreinerlehre aber erst Anfang dieses Jahres, denn seine Geschichte verlief anders als ursprünglich geplant. Seit Februar lässt er sich bei der Schläppi Innenausbau GmbH in Lenk BE zum Schreiner ausbilden. Weil sein Arbeitsweg dorthin zu weit wäre, wohnt er unter der Woche bei seinem Grossvater, der ebenfalls in Lenk wohnt. Als Ausgleich verbringt der 20-Jährige gerne Zeit in der Natur – mit Wandern, Klettern oder Campen unter freiem Himmel. Momentan spielt er gerne «GeoGuessr», ein Computerspiel, bei dem man einen unbekannten Ort auf der Welt anhand eines zufälligen Bildausschnittes lokalisieren muss.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie Hählens Geschichte begann, bevor er sich für eine Schreinerlehre entschloss. Nach seiner abgeschlossenen Matura leistete er ein Jahr Zivildienst an einer Volksschule in Münsingen BE. Dort half er im Hausdienst mit – eine Tätigkeit, die ihn besonders wegen des handwerklichen Bezugs Freude machte. Diese erste praktische Erfahrung wurde zum entscheidenden Ausgangspunkt für seine spätere berufliche Neuorientierung.

Studium wird zur Belastungsprobe

Im vergangenen Herbst begann er anschliessend ein Studium der Erdwissenschaften. Doch schon nach kurzer Zeit merkte Hählen, dass die Anforderungen an der Universität ihn überforderten. «Ich war unter konstantem Stress und lief nur noch am Limit, sodass ich irgendwann sofort Kopfschmerzen bekam, wenn ich nur schon ein Blatt anschaute», beschreibt er seinen Zustand. Um sich selbst zu schützen, entschloss er sich, das Studium vorerst zu unterbrechen. Hählen lebt mit ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) und kämpft mit Depressionen. Lernen und Konzentration fallen ihm dadurch nicht leicht – insbesondere im schulischen Kontext. Zur Unterstützung besucht er seit der vierten Klasse deshalb regelmäs-sig eine Gesprächstherapie.

Berufswahl mit System

Nach dem Abbruch des Studiums brauchte Lorin Hählen einen beruflichen Neuanfang. Er setzte sich intensiv mit möglichen Berufswegen auseinander, absolvierte Online-Tests und erstellte Listen mit Tätigkeiten, die ihn interessieren könnten. Am Ende verdichtete sich seine Auswahl auf zwei Berufe: Automechaniker und Schreiner. In beiden Bereichen absolvierte er eine Schnupperlehre. Der Beruf des Automechanikers fiel für ihn bald weg, weil er die Arbeit als eintönig und wenig abwechslungsreich empfand. Anders der Schreinerberuf: «Holz ist ein wunderschönes und natürliches Material. Dinge daraus zu formen, ist kreativ und hat auch etwas Meditatives.»

Einstieg in die Schreinerei

Seine Schnupperlehre als Schreiner absolvierte der junge Berner bei der besagten Schreinerei in Lenk, wo es ihm auf Anhieb gefiel. Nach einem Evaluationsgespräch und kurzer Bedenkzeit stand für beide Seiten fest: Hählen wird dort seine Lehre beginnen. Aufgrund seines Matura-Abschlusses konnte er in eine verkürzte Lehre einsteigen. Da der Betrieb in jenem Jahr keinen Lernenden im ersten Lehrjahr beschäftigte, wurde ein Ausbildungsstart im Februar möglich. Der aussergewöhnliche Einstieg musste noch mit dem Berufsbildungsamt koordiniert werden – aufgrund seiner abgeschlossenen Matura war dies jedoch problemlos möglich. Die grössere Herausforderung war der Stoff aus der Berufsschule, den er eigenständig aufholen musste. Besonders betroffen war er von den überbetrieblichen Kursen (üK), die er verpasst hatte. «Diese werde ich nun im Herbst gemeinsam mit den neuen Lernenden besuchen, die nach dem Sommer beginnen.»

Der Weg zur Hobelbank

Lorin erlebte viel Zuspruch für seinen Wechsel von der Universität zur Schreinerei. Besonders in seiner Familie wurde die Entscheidung positiv aufgenommen – auch deshalb, weil es in der Familiengeschichte schon mehrere Schreiner und Zimmerleute gab. «Es ist natürlich auch praktisch, einen Schreiner in der Familie zu haben», sagt er mit einem Schmunzeln. Im Vergleich zum Gymnasium findet Hählen die Berufsschule deutlich angenehmer. Der Unterricht ist weniger theoretisch und stärker auf die Praxis bezogen – genau das entspricht seiner bevorzugten Lernweise. Weil er bereits die Matura hat, besucht er keine allgemeinbildenden Fächer mehr, sondern ausschliesslich die berufsspezifischen Lektionen am Vormittag. Den Nachmittag verbringt er im Betrieb. Eine spezielle Unterstützung im schulischen Bereich erhält der angehende Schreiner nicht. Lediglich zu Beginn sprach er mit seinen Lehrpersonen darüber, was noch nachzuholen ist.

Der Körper muss mitziehen

Die körperliche Umstellung vom Studium zur praktischen Arbeit war nicht einfach. Zu Beginn der Ausbildung zog sich Lorin Hählen eine Sehnenentzündung zu. «Ich habe in den ersten Wochen sehr viel gelernt. Und umso länger ich dort bin, desto mehr kann ich machen», sagt er rückblickend. Bevor er an den Maschinen arbeiten durfte, musste er eine Sicherheitseinführung absolvieren und schriftlich bestätigen, dass er unterwiesen wurde – unter anderem mit dem Suva-Ordner. Nur an der Kehlmaschine und beim Massivholzzuschnitt darf er bisher nicht arbeiten. Alles andere erledigt er weitgehend selbstständig.

Begeistert vom kreativen Prozess

Am meisten fasziniert den Lernenden der kreative Entstehungsprozess von Möbeln: von der Idee bis zur handwerklichen Umsetzung. «Nicht nur die technische Ausführung, sondern auch das Gestalten interessiert mich sehr», erklärt er. Vielleicht ändere sich sein Fokus im Laufe der Ausbildung noch – aber der kreative Aspekt sei für ihn besonders reizvoll.

Ein erstes eigenes Projekt konnte der Spiezer mit einem Stirnholz-Schneidbrett verwirklichen. Die Idee fand er zunächst online. Das gewünschte Muster hätte jedoch zu viel Material benötigt. Also entschied Hählen sich für ein einfaches Schachbrettmuster und zeichnete sogar einen CAD-Plan – obwohl dies gar nicht nötig gewesen wäre. «Mich faszinieren Computer, deshalb wollte ich es ausprobieren.» Das Schneidbrett fertigte er aus Ahorn- und Eschenholz.

Selbstständig ans Werk

Im Arbeitsalltag übernimmt Lorin Hählen meist kleinere Aufträge. «Ich schreibe einen Arbeitsablauf, bespreche ihn mit meinem Ausbildner und kann das Projekt dann relativ selbstständig umsetzen.» Zuletzt arbeitete er an einem Wohnungsumbau, bei dem er das Täfer und die Isolation entfernte. Beim Neuaufbau mit Rostung, Isolation und neuem Täfer wird er unterstützt. «Da ich schon den Führerschein habe, kann ich direkt zur Baustelle fahren und dort mithelfen, wo es mich braucht.» Typischerweise arbeitet der angehende Schreiner gerne mit Massivholz. Zu seinen bisherigen Projekten zählen unter anderem ein Bilderrahmen aus Arvenholz für eine Pinnwand und ein Bistrotisch aus massiver Esche. «Die Arbeit bei uns in der Schreinerei ist sehr abwechslungsreich; wir machen eigentlich alles, ausser Fenster», erzählt er begeistert.

Struktur durch Handwerk

Derzeit besucht Hählen an zwei Halbtagen pro Woche eine Gesprächstherapie – eine wichtige Stütze zur Verarbeitung der Erfahrungen aus dem vergangenen Herbst. Seine psychische Verfassung hat jedoch kaum Einfluss auf seine Arbeit: «Das Arbeiten gibt mir eine gute Struktur und bringt mich auf andere Gedanken.» Besonders am Abend, wenn er müde ist, spürt Hählen manchmal die Belastung – doch das gehört für ihn zur Lehre dazu. Mit Blick auf das zweite Lehrjahr zeigt er sich zuversichtlich: «Man lernt immer mehr und wird dadurch auch selbstständiger – das finde ich schon cool.» Auf grössere Projekte freut er sich besonders – sie stellen für ihn die nächste spannende Etappe in seinem neuen beruflichen Weg dar.

schlaeppi-innenausbau.ch

 

Das hilft dir weiter

Wenn dir die Lehre Schwierigkeiten bereitet oder du sonst Unterstützung brauchst, gibt es verschiedene Wege, Hilfe zu bekommen. Sprich mit einer Vertrauensperson – auch ein offenes Gespräch mit deinem Ausbildner oder deiner Ausbildnerin kann entlasten. Darüber hinaus stehen dir weitere Anlaufstellen zur Verfügung:

  • Regionale/kantonale Jugendberatungsstellen, Berufsbildungsämter oder die Schulsozialarbeit sind eine mögliche Anlaufstelle für psychologische Unterstützung.
  • Pro Juventute: Über die Nummer 147, WhatsApp oder www.147.ch findest du Hilfe.
  • Die Stiftung Pro Mente Sana berät, unterstützt und hilft bei Sorgen. Erreichbar unter www.promentesana.ch oder 0848 800 858.
  • Die dargebotene Hand: Falls du emotionale Hilfe benötigst, kannst du hier über die Nummer 143 oder unter www.143.ch rund um die Uhr kostenlos mit jemandem diskret und offen sprechen.

michi läuchli

Veröffentlichung: 05. Juni 2025 / Ausgabe 23/2025

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