Adrenalin zum Ausgleich

Sein Motocross-Bike möchte der Schreiner und Bestatter Sven Dietrich (45) bald wieder fahren. Bild: Franziska Gertsch

Leute. Sven Dietrich ist in seinem Arbeitsleben immer wieder mit schwierigen Schicksalen und vielen Emotionen konfrontiert: Er führt in Unterseen im Berner Oberland eine Schreinerei und ein Bestattungsunternehmen.

Bis zu 90 Bestattungen im Jahr führt er durch. Der Arbeitsalltag des Bestatters ist vielseitig. Das Einsargen gehört dazu wie Transporte zum Friedhof oder ins Krematorium. Für Aufbahrungen kleidet er die Verstorbenen ein, macht sie zurecht und schmückt sie mit Blumen. «Das Geschäft mit dem Tod wäre für viele Menschen wohl nichts. Aber ich bin damit aufgewachsen», meint der 45-Jährige. Bald nach der Schreinerlehre, einem Studium an der Holzfachschule in Biel und einem Auslandaufenthalt stieg er im Elternbetrieb ein. Stirbt jemand, ist oft der Bestatter die erste Ansprechperson und eine wichtige Stütze. «In dieser belastenden Zeit nehmen wir den Hinterbliebenen möglichst viel ab», erklärt er. Nach dem Tod warten auf Angehörige zahlreiche Formalitäten wie der Totenschein, die Meldung ans Zivilstandsamt oder auch die Anmeldung der Bestattung. Viele Trauerfamilien wünschen sich auch ein Leidzirkular oder eine Todesanzeige. Dafür hat er einen ganzen Ordner voller Vorschläge. Er hilft auch dabei, die Trauerfeier zu organisieren. «Ich organisiere die letzte Party der Verstorbenen», sagt er und schmunzelt.

«Motocross wird stark unterschätzt. Es ist die anstrengendste Sportart, die ich kenne.»

Der Bestatter hat immer ein offenes Ohr für seine Kundinnen und Kunden. «Ich stelle keine persönlichen Fragen, höre aber aufmerksam zu. Klar muss man einfühlsam sein. Aber man darf sich die Schicksale nicht zu nahe gehen lassen», meint er. Sich selbst stets zurückzunehmen und für andere da zu sein, kann belastend sein – besonders wenn es um schwere Schicksale geht, etwa den Tod eines Kindes. «Die Erfahrungen aus dem Bestattungsgeschäft erden mich und relativieren im Schreineralltag doch vieles», sagt Dietrich.

Einen wichtigen Ausgleich finde er im Sport, erklärt er. Regelmässig powert sich der Vater zweier kleiner Kinder aus – beim Tennis und Biken oder am Wochenende beim Skifahren mit der Familie. Nicht selten fährt er mit dem Rennvelo ins Krematorium nach Thun, um eine Urne abzuholen. Oft zieht er sich vor dem Nachtessen auch für eine Runde Snooker in den Hobbykeller zurück. Dort steht auch seine Honda CRF – seit vier Jahren unbenutzt und schon mit der einen oder anderen Spinnwebe behangen. «Aber ich werde sie bald wieder revidieren lassen», sagt er und lacht. Schon als Kind war er fasziniert von Motocross, eine Maschine kaufte er sich aber erst mit 29. Während Jahren war der Motorsport seine grosse Leidenschaft, und er fuhr dafür regelmässig nach Italien. «Motocross wird stark unterschätzt. Es ist die anstrengendste Sportart, die ich kenne. Sie ist körperlich extrem, beansprucht jedes Körperteil, und auch die ständigen Vibrationen muss man aushalten.» Vor allem aber fordert Motocross das Hirn: «Man ist konzentriert und muss sich auf technische Details konzentrieren, und dann kommen ständig die Adrenalinschübe bei Sprüngen, wenn man viele Meter durch die Luft fliegt.»

Als er Vater wurde, stellte er das Hobby zurück – denn familientauglich sind die Motocross-Wochenenden nicht. «Ich habe Motocross aber nicht etwa aufgegeben, ich habe es nur aufs Eis gelegt.» Zwar fehlt ihm Motocross. Aber kompensieren kann er einiges mit seinem Enduro-Bike. Wenn er mit dem Bike auf Pumptracks oder Jumptrails fährt, dann holt er sich ebenfalls die Adrenalin-Kicks, die er so dringend zum Ausgleich braucht.

Franziska Gertsch

Veröffentlichung: 03. April 2023 / Ausgabe 13/2023

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