Aus Liebe zur Literatur

Schreiner Oscar Friesen (26) studiert aus Begeisterung für Literatur an der Universität Zürich Germanistik. Bild: Franziska Herren

Leute. Vor dem Eingang zum Deutschen Seminar der Universität Zürich machen ein paar Studierende Pause. Sie lassen den Kopf durchlüften, um dann mit neuer Energie weiterzulernen. Einer dieser Studenten ist Oscar Friesen.

«Ich kann mich hier besser konzentrieren als in meiner WG», erklärt der 26-jährige Masterstudent. Sein Terminkalender ist voll, und seine Zeit zum Lernen muss er sich gut einteilen. Um sein Studium der «Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft» und der «Geschichte der Neuzeit» zu finanzieren, macht er Stellvertretungen an einer Sekundarschule. Während der Semesterferien arbeitet er zudem in der Schreinerei, in welcher er die Lehre gemacht hat. Dass Friesen einmal eine so grosse Begeisterung für Literatur entwickeln würde, war als Kind praktisch undenkbar. Seine Eltern lasen ihm manchmal vor. Später stöberte er gerne in naturwissenschaftlichen Büchern. «Auf erfundene Geschichten hatte ich aber wenig Lust», erinnert er sich. Erst als der Schreiner die Berufsmaturität und später die gymnasiale Maturität erwarb, erwachte die Faszination für Literatur. «Ich habe gemerkt, dass man ein Werk nicht nur oberflächlich lesen, sondern analysieren kann, mit welchen narrativen und sprachlichen Mitteln im Text Spannung erzeugt wird, wie sich die historischen Umstände bemerkbar machen und aus welcher Perspektive erzählt wird», schildert Friesen. Ein paar Bücher sind ihm besonders im Gedächtnis geblieben.

«Dass ich vor dem Studium eine Schreinerlehre gemacht und als Schreiner gearbeitet habe, hat mich weitergebracht und mein Selbstbewusstsein gestärkt.»

Eins davon ist «Der Tod in Venedig» von Thomas Mann. Die Novelle aus dem Jahr 1911 ist eines seiner bekanntesten Werke. Themen der literarischen Moderne zwischen 1890 und 1920 waren die apokalyptische Endzeitstimmung, Sprachkritik, Dekadenz, Verfall und Tod. «Diese Strömung begeistert mich sehr, da versucht wird, den grossen Umbruch zu widerspiegeln.» Ausser mit der literarischen Moderne befasst sich Friesen in seinem Studium auch mit aktuellen Themen, so zum Beispiel mit Jugendsprache oder mit der Frage, wie sich die Sprache durch die Kommunikation mit Whatsapp entwickelt hat. Als Friesen vor viereinhalb Jahren mit dem Studium begonnen hatte, musste er mit den neuen Herausforderungen erst zurechtkommen. «In der Schreinerei waren die Ziele klar vorgegeben. Im Studium war ich plötzlich auf mich alleine gestellt und musste die Arbeit selbstständig organisieren», erklärt er. «Dass ich vor dem Studium bereits eine Schreinerlehre gemacht und als Schreiner gearbeitet habe, hat mich weitergebracht und mein Selbstbewusstsein gestärkt», stellt er fest. Seit er an einer Sekundarschule arbeitet, ist für ihn klar geworden, dass er später unterrichten will. «Die Interaktion mit den Jugendlichen gefällt mir. Wir können voneinander lernen.» Schon als Schreiner sei er den Lernenden bei Fragen gerne zur Seite gestanden, erzählt er. Nun will er jungen Erwachsenen seine Begeisterung für Literatur weitergeben.

Sein Traum ist es, später an einem Gymnasium zu unterrichten und daneben zu schreinern. «Ich arbeite immer noch gerne als Schreiner und möchte den Beruf nicht ganz verlassen.» In seiner Wohnung erinnern ihn der Nachttisch, das Büchergestell, das Fernsehmöbel und das Pult, alles Möbel, die er selbst angefertigt hat, an die Zeit, als er Vollzeit als Schreiner gearbeitet hat. «Ich denke, dass später mehr selbst geschreinerte Möbel dazukommen werden, wenn ich mal einen festen Wohnsitz und mehr Zeit habe.»

Franziska Herren

Veröffentlichung: 01. April 2024 / Ausgabe 13/2024

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