Der Erfinder der Riesenrätsche

In normalen Zeiten macht Roger Bürgy (66) an der Dorfchessletein Deitingen mit Riesenrätsche und Raffel (vorne) Krach. Bild: Franziska Herren

Heute wäre es wieder so weit gewesen. In normalen Zeiten wäre Roger Bürgy in dieser Nacht irgendwann zwischen drei und vier Uhr aufgestanden, hätte ein weisses Nachthemd, eine Zipfelmütze und ein rotes Halstuch angezogen, eine Riesenrätsche aus seiner Schreinerei geholt und wäre mit anderen «Chesslern» durch das Schachenquartier im solothurnischen Deitingen gezogen. Um fünf Uhr hätte man sich am Bahnhof mit weiteren Fasnachtsfreudigen getroffen. Ein Böller hätte den Schmutzigen Donnerstag angekündigt. Rund 200 Menschen hätten an der Dorfchesslete in Deitingen rumort und mächtig Krach gemacht mit Rätschen und Glocken, um den Winter zu vertreiben. Gegen morgen wäre die durchkühlte Mannschaft dann in ein Restaurant gegangen und hätte sich mit einem Teller Mehlsuppe aufgewärmt. Doch in diesem Jahr bleiben Bürgys Riesenrätschen stumm und in seiner Schreinerei verstaut. Es kamen keine Bestellungen für Riesenrätschen rein, und der pensionierte Schreiner konnte auch keine Kurse anbieten, um diese selber herzustellen. Die Anfertigung einer etwa drei Kilo schweren Riesenrätsche aus Tannen- und Eschenholz dauert rund zwei Stunden. «Dazu müssen zuerst sternförmige Zahnräder ausgesägt und geschliffen werden. In die Zahnräder wird ein Loch gebohrt, durch das dann der Rätschengriff geführt wird», erklärt der Fachmann. «Als ich jung war, machten wir mit Motoren an der Chesslete Lärm», erzählt Bürgy. Als dies verboten wurde, kam der junge Schreiner auf die Idee, eine Riesenrätsche anzufertigen. Denn die Rätschen, die man kaufen konnte, erzeugten für ihn zu wenig Krach. «Diese Riesenrätsche habe ich vor vierzig Jahren in meinem Lehrbetrieb gemacht», sagt Bürgy und hält eine noch intakte, schwere Rätsche hoch.

Im Lauf der Jahre hat Bürgy sein Instrument perfektioniert, sodass es nun sehr leicht und laut ist. Wenn die Rätsche durch die Luft wirbelt, erzeugt sie einen ohrenbetäubenden Lärm von über 100 Dezibel. «Je lauter, desto besser», sagt Bürgy und schmunzelt. In seiner Schreinerei steht noch ein anderes Vehikel, mit dem er an der Dorfchesslete so richtig Lärm erzeugen kann. Es ist eine «Raffel» auf Rädern. «Mir ist es ein grosses Anliegen, dass die Fasnachtstradition mit der Chess- lete in unserem Dorf erhalten bleibt und dass dieses Brauchtum nicht an Wert verliert.» Der 66-Jährige ist in Deitingen aufgewachsen. Das Dorf- und Vereinsleben hat für ihn eine grosse Bedeutung. Zusammen mit Freunden hat er in jungen Jahren beim Skifahren die «Schachenzunft» gegründet, die bis heute Bestand hat. Die Mitglieder unterhalten an der Aare einen Picknickplatz und organisieren regelmässig ein Fest. Er ist ausserdem im Turnverein und im Radverein «Freunde des alten Militärfahrrads».

«Ich sage immer, dass ich drei Standbeine habe: die Familie, den Beruf und das Vereinsleben», sagt Bürgy. Auch wenn das Vereinsleben gerade stillsteht, ist es ihm nie langweilig. So hat der Tüftler gerade eben eine mobile Sauna fertiggestellt. Für die Mühle im Dorf hat er einen Müesli-Spender aus Massivholz entwickelt. Auch Bürgys Tochter profitiert von seinem Einfallsreichtum. Sie wohnt gleich neben der Schreinerei in einem Tiny-House, das er gebaut hat.

«Mir ist es ein grosses Anliegen, dass Fasnachtstradition mit der Chesslete in unserem Dorf erhalten bleibt.»

Franziska Herren

Veröffentlichung: 11. Februar 2021 / Ausgabe 7/2021

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