Der Müll als Spiegel der Gesellschaft

Der lebensfrohe, gelernte Schreiner Bernhard Mathes (32)hat seinen Job als Müllsammler gekündet und möchte Wildhüter werden. Bild: Caroline Schneider

Beinahe lautlos biegt das Hybridfahrzeug in die Marktgasse ein. Die beiden orange gekleideten Männer greifen flink ein paar Abfallsäcke, die vor dem Restaurant stehen, und werfen sie in grossem Bogen in den Rachen des Müllwagens. Die Schaufel packt sogleich die Säcke und schiebt sie in den hinteren Teil. Es dröhnt. Das Gefährt stöhnt, zittert und ächzt, als ob es unter dem Müll zu ersticken drohe. Angebissene Hamburger, Salat, Servietten und Pappbecher purzeln aus den Säcken und eine matschig, braune Flüssigkeit quillt hervor. Gleichzeitig sticht ein bissig säuerlicher Geruch in die Nase. Bernhard Mathes, der junge Abfallsammler mit den leuchtend braunen Augen, lacht und meint: «Nach viereinhalb Jahren hast du dich an den Gestank gewöhnt.» Im Sommer werden die Gerüche intensiver und der Abfall beginnt «zu kriechen». «Mit den Maden habe ich mich bis heute noch nicht angefreundet», gibt der gelernte Schreiner offen zu und zeigt sein fröhliches Lachen. Er hebt eine Taubenfeder vom Pflasterstein hoch und steckt sie zu den anderen gesammelten Federn ans Fahrzeug. Einige Passanten lächeln dem jungen Müllmann zu und grüssen ihn. «Es kommt vor, dass sich Leute bei mir für meine Arbeit bedanken. Sie schätzen, was ich tue.» Doch die Tage des 32-Jährigen als Müllmann bei der Stadt Winterthur sind gezählt. «Ich habe keine Lust mehr, den Dreck unserer Wegwerfgesellschaft zu entsorgen.»

Täglich sammelt er über 20 Tonnen Abfall ein. «Wohlstandsmüll, viele verpackte Esswaren etwa oder elektronische Geräte.» Sein Arbeitskollege wirft ein, dass er kürzlich etliche Packungen Trockenfleisch aus dem Müll gerettet habe. Bernhard Mathes wird philosophisch: «Der Müll ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Anhand der Menge und des Geruchs des Abfalls lässt sich der Zustand einer Gesellschaft ablesen.»

Manchmal tue es ihm als gelerntem Schreiner richtig weh, wenn er schöne, antike Holzmöbel in die Kehrichtverbrennung bringen müsse. «Kleinere Dinge fische ich schon aus dem Abfall. Säcke mit Kerzen etwa, die er beim Depot eines Möbelgeschäfts gefunden habe. Oder Werkzeuge.» Ende Juli läuft der Arbeitsvertrag von Bernhard Mathes aus. Kurtulus, der Fahrer, verwirft die Hände. Es sei ein Jammer, dass «Berni» gehe. Er habe so gerne mit ihm zusammengearbeitet. «Er ist ein sehr verantwortungsbewusster, hilfsbereiter und aufgestellter Mitarbeiter», meint der Chauffeur. Bernhard Mathes beruhigt ihn: «Wir werden in Kontakt bleiben.» Er habe «ins Blaue» gekündet, berichtet er. «Ich bin nicht besonders sicherheitsorientiert, weil ich überzeugt bin, dass das Passende zur richtigen Zeit ins Leben kommt.» Der Winterthurer ist sehr naturverbunden. Kürzlich hat er mit seiner Freundin eine Wohnung mit Garten und Werkstatt bezogen. «Ich möchte nicht mehr von der Lebensmittelindustrie abhängig sein.» Der Gedanke des Selbstversorgers interessiere ihn sehr. Wie überlebt man in der Natur? Welche Pflanzen kann man essen? In der Stadt gebe es so viele Nuss- und Apfelbäume, die nicht genutzt werden.Mit dem Garten hat er sich ein kleines Experimentierfeld zurechtgelegt.

In der Freizeit geht der Handwerker seiner grossen Leidenschaft nach: Er verarbeitet Holz, Metall und Leder zu kunstvollen Pfeilbogen oder Messern. «Auf dem Ballenberg habe ich Bogenbau- und Schmiedekurse besucht. Das alte Handwerk muss am Leben erhalten werden», sagt er. Sein Plan für die Zukunft ist es, Wildhüter zu werden. Hauptsache draussen. Wind und Wetter ausgesetzt. Und in Bewegung.

«Es kommt ab und zu vor, dass sich Leute bei mir für meine Arbeit bedanken. Sie schätzen, was ich tue.»

cs

Veröffentlichung: 01. Juni 2015 / Ausgabe 21/2015

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