Eiger, Mönch und Velogemel

Neun Minuten benötigt Schreiner Markus Almer (37), um aus elf Einzelteilen einen Velogemel zusammenzusetzen. Bild: Sabine Schaller

Der Schreiner Markus Almer zeigt auf die Klotzbretter, die sich im Lagerraum der Holzkreation Schmid AG in Grindelwald bis unter die Decke stapeln. Hier ruht das Rohmaterial für die Herstellung eines einspurigen Lenksportschlittens. Jedes Holzbrett wird mit höchster Sorgfalt ausgewählt: «Wir prüfen, ob es geeignet ist, und achten darauf, dass möglichst wenig Verschnitt entsteht», sagt Almer. Das Fahrgestell, das besonderen Belastungen ausgesetzt ist, wenn der Fahrer später mit ihm auf einer festen Schneedecke die Strasse oder einen Hang herunterfährt, wird aus Eschenholz gearbeitet. Kufen, Lenker und Sattel sind aus Ahorn. An der Bandsäge schneidet der Schreiner die Rohlinge aus und führt sie durch die Hobelmaschine. In der CNC-Fräse erhalten alle elf Teile ihren letzten Schliff und die Kufen ihr charakteristisches Design. Verleimt und verschraubt ergeben sie im Ganzen den «Velogemel» – sein Name verrät die Verwurzelung im Ort: Gemel ist das Grindelwalder Dialektwort für Schlitten. Mit dem Kultgefährt aus dem Berner Oberland verbindet Almer eine lange Geschichte, die in der Lehre ihren Anfang nahm. «Damals haben wir den Velogemel noch komplett von Hand gefertigt. Das war ein ideales Training für mich», erinnnert er sich. Kaum einer kennt sich so gut aus mit dem Holzgefährt wie Almer. Er überwacht die Produktion und kontrolliert die Materialbestände. Geht eine Bestellung ein, so hat er den Schlitten binnen neun Minuten zusammengesetzt. «Wer geübt ist, schafft es in dieser Zeit», sagt er und lacht.

Rund 50 bis 60 Velogemel verkauft die Schreinerei pro Jahr zu einem Stückpreis von 600 Franken. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Bäcker seine Brötchen mit dem Velogemel auslieferte. Ab und zu sehe man Kinder, die mit ihm in die Schule fahren, sagt Almer, aber der Veloschlitten hat sich längst vom alltäglichen Fortbewegungsmittel zum beliebten Freizeitgerät gewandelt. Er selber nimmt den Velogemel ab und zu mit auf einen Winterspaziergang. An der Velogemel-Weltmeisterschaft nimmt er mittlerweile nicht mehr teil – gegen die Teilnehmer mit Modellen älteren Jahrgangs hatte er regelmässig das Nachsehen. «Vom jahrzehntelangen Fahren ist das Metall der Kufen fein poliert. In den steilen Hängen fahren sie einen Vorsprung heraus, der nicht mehr aufzuholen ist», analysiert Almer den nicht ganz bierernsten Wettkampf. Die Grindelwaldner hängen an ihrem Velogemel: «Er hat einen hohen emotionalen Wert», erklärt Almer. Die Eltern geben ihn an ihre Nachkommen weiter, und bricht eines der Hartholzelemente, scheuen sie keine Kosten, um das Schneefahrrad wieder fahrtüchtig zu machen. Beweis dafür ist ein reparierter Velogemel, der abholbereit in der Schreinerei steht. Über sechzig Jahre hat er in den Kufen. Er stammt aus einer kleinen Serie, die mit gefedertem Sattel ausgestattet wurde. Experimente wie diese sind die Ausnahme.

Optisch hat sich der Gemel seit seinem Geburtsjahr 1910 kaum verändert. Damals tüftelte Christian Bühlmann in der Sägerei Schwendi in Grindelwald an einem Gefährt, welches dem Gehbehinderten die Fortbewegung erleichtern sollte. Ein Jahr später liess er den Velogemel patentieren. «Das Design ist im Grunde gleich geblieben. Nur wenige Details wurden verändert», erklärt Almer. «Manche lassen ihren Namen in den Velogemel einschnitzen oder einbrennen», sagt er und zeigt auf ein Fahrgestell mit der Aufschrift «Grossvati Mobil». Im Werkstattunterricht schreinern Schüler mitunter gar ihren ganz eigenen Velogemel. Er gehört eben zu Grindelwald wie die Berge.

«Damals haben wir den Velogemel noch komplett von Hand gefertigt. Das war ein ideales Training für mich.»

sas

Veröffentlichung: 18. Februar 2016 / Ausgabe 7/2016

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