Ein Auge für zerfallene Orte

Schreiner Oliver Gutfleisch (53) mit seinen zwei Büchern «Lost Places Schweiz», das dritte erscheint im April. Bild: Caroline Mohnke

Leute. «Man weiss nie, was einen erwartet», sagte Oliver Gutfleisch über seine Leidenschaft: Das Fotografieren von sogenannten Lost Places, von verlassenen und zerfallenen Gebäuden.

«Manche Häuser sind richtig eingewachsen, und im Innern hängen die Spinnweben tief herunter», berichtet der Schreiner an seinem Arbeitsplatz bei der Schreinerei Stulz AG in Malters LU, wo er seit der Lehre arbeitet. In Malters ist er aufgewachsen und hat in der Oberstufe die Begeisterung fürs Holz entdeckt. Die Fotografie fasziniere ihn mittlerweile auch schon mehr als 25 Jahre, erzählt der 53-Jährige. Seit sieben Jahren fotografiert er leidenschaftlich verwitterte und zerfallene Orte. Er blättert in den bisherigen zwei Bildbänden und zeigt die ästhetischen Aufnahmen von Orten aus vergangenen Zeiten. «Dieses Haus ist ungefähr 300 Jahre alt. Es wohnte eine zwölfköpfige Familie darin, die von der Hand in den Mund lebte», sagt er und zeigt auf eine der Fotografien. Darauf zu sehen sind alte Holzbetten, durchhängende Matratzen, Blümchentapeten, Spinnweben und andere Zeugen von anno dazumal. Wie alle zwölf Bewohner ihren Platz im Haus fanden, sei ihm ein Rätsel. Ein weiteres Bild ist beschriftet mit «Das Haus der Schwestern 99 & 102 Jahre». Es ist die Aufnahme einer Wohnstube zu sehen, das Tischtuch noch ausgebreitet und alles fein säuberlich hinterlassen. «Die eine Schwester hat zu ihrem Hundertsten noch ein grosses Geburtstagsfest gemacht im Dorf», sagt Gutfleisch und lacht. Solche Anekdoten erfahre er von den Leuten, die ihm den Schlüssel übergeben zu den Häusern, oder von den Nachbarn. Er suche den Kontakt und rede mit den Leuten. «Wenn ich ein verwittertes, unbewohntes Haus entdecke, klopfte ich manchmal beim Nachbarhaus an», erzählt er.

«Der Zauber und das Vergängliche der verlassenen Orte sollen möglichst lange erhalten bleiben.»

Der passionierte Fotograf ist häufig mit einer Kollegin aus der Facebook-Gruppe «Lost Places Schweiz» unterwegs. An ein Erlebnis erinnere er sich, als sei es gestern gewesen: «Eine Bäuerin gab uns einen Tipp. Wir fuhren hinter dem Traktor der Bäuerin her, und oben angekommen, überreichte sie uns einfach den Schlüssel zu einem verlassenen Heimetli.» Zum Dank bekämen die ehemaligen Hausbesitzer Fotos in voller Auflösung von ihm, und das löse in ihnen grosse Dankbarkeit aus. In den verwitterten und verlassenen Stuben und Zimmern verstaube so ziemlich alles vor sich hin: «Helgeli», die kleinen Sterbebildchen der Ahnen des Hauses, alte Zeitschriften und Zeitungen, Sonntagsschuhe und Arbeitsschuhe neben morschen Betten. Doch die sogenannten Urbexer, die «Urban Explorer», fotografieren und gehen wieder. Die Dinge bleiben an Ort und Stelle, so wie sie angetroffen wurden. Das Bekanntgeben der Standorte von Lost Places ist unter den Urbexern ein Tabu. «Der Zauber und das Vergängliche sollen möglichst lange erhalten bleiben.»

Oliver Gutfleisch protokolliert jeden Besuch akribisch: «In einer Excel-Tabelle halte ich alles fest: Ortsnamen, Kürzel des Kantons, Baujahr, Zustand, Abriss- oder Umbau, Koordinaten und wer zuletzt darin gewohnt hat.» Seine Liste beinhaltet derweil schon bald 700 Objekte. «Fast 100 pro Jahr», sagt er. Nun freut er sich auf seinen dritten Bildband, der im April erscheint. Er ist, wie auch die bisherigen beiden, direkt beim Fotografen oder im Buchhandel erhältlich.

Caroline Mohnke

Veröffentlichung: 08. April 2024 / Ausgabe 14/2024

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