Ein Baum voller wunderlicher Tiere

Der Körper dieses zwei Meter grossen Chamäleons besteht aus bemaltem Holz, das motorisierte Skelett aus Stahl. Bild: Alexandra von Ascheraden

Holzkunst.  Mechanische Tiere sind die Spezialität der Kompanie «La Machine» in Nantes. Ihr aktuelles Projekt ist ein gigantischer Baum aus Stahl und Holz, der von unzähligen Tieren bevölkert wird. Für das Projekt arbeitet ein Team von Fachleuten, darunter auch Schreiner.

Die Stadt Nantes im Westen Frankreichs hat einige Eigenheiten, darunter einen 12 Meter hohen Elefanten, der 50 Leute heben kann und sie samt seiner eigenen 48 Tonnen Holz und Stahl über eine Flussinsel trägt. Die mechanischen Beine bewegen sich wie die eines echten Elefanten. Wenn er seinen Rüssel schwenkt und vorwitzige Betrachter nass spritzt, wirkt auch das verblüffend naturgetreu. Der Elefant ist eines der Objekte, die Pierre Orefice (Bild) und François Delarozière auf die Beine gestellt haben. Delarozière ist künstlerischer Direktor der Kompanie «La Machine», die ihre Wurzeln im Bau riesiger mechanischer Figuren für Strassentheater hat. Orefice leitet das Ausstellungsprojekt «Les Machines de lîle», zu welchem der Elefant gehört. Nun haben die beiden Künstler sich ein noch grösseres Objekt vorgenommen als den Elefanten: einen 35 Meter hohen, von Vegetation überwuchertern Baum aus Stahl und Holz. Die Baumkrone soll etwa 50 Meter Durchmesser haben. Es wird eine Art begehbarer hängender Garten. Entlang seiner Äste sollen Pflanzkästen montiert werden, die eine dschungelartige Bepflanzung erhalten. Entlang der Äste wird ein gut ein Kilometer langer Weg hoch über der Loire zum Spazieren einladen. Der «Arbre aux Hérons» soll von 2 Reihern (franz.: héron) mit mehr als 16 Metern Spannweite gekrönt werden, die Besucher zu einem Flug über die Baumkrone mitnehmen. Die 17 Äste aus mehr als 1000 Tonnen Stahl sollen 400 Perso- nen auf einmal tragen können. Auf ihrem Rundgang treffen die Besucher immer wieder auf mechanische Tiere. Pierre Orefice erzählt: «Wir hatten diesen Baum von Anfang als feste Vorstellung im Kopf. Seit 20 Jahren verfeinern wir sein Konzept immer weiter.» Wenn alles klappt, können 2027 die ersten Besucherinnen und Besucher auf den Baum steigen. Ganz klar ist das laut Orefice allerdings noch nicht. Denn das Projekt kostet gut 52 Millionen Euro. Die Macher gingen davon aus, dass sie als Künstlerkollektiv die Produktion der Teile nicht ausschreiben müssen. Doch das muss noch geklärt werden. Grundsätzlich hat die Stadt Nantes, die ein Drittel der Kosten tragen will, jedoch im Juni 2021 grünes Licht gegeben.

Auch ohne Baum: In Nantes gibt es bereits viele mechanische Lebewesen der Künstlergruppe zu bestaunen. Die Tiere sind im Moment in einem Hangar zu besichtigen und in Bewegung zu erleben. So etwa ein zwei Meter langes Chamäleon. Es krabbelt gemächlich auf seinem Ast herum, schlingt, wie ein echtes, stets den Schwanz zur Sicherung darum, bewegt die Augen unabhängig voneinander und kann seine Farbe ändern. Von Zeit zu Zeit lässt es seine Zunge blitzartig herausschnellen, um zielsicher eine eiserne Fliege zu fangen. Eine ferngesteuerte, gigantische Ameise lässt bis zu vier Passagiere auf ihrem Rücken Platz nehmen. Und auch eine Riesenspinne bewegen die Künstler im Raum. Wenn der stählerne Baum dann eines Tages steht, werden die Besucher auf dem Rundgang entlang seiner Äste immer auch auf diese und weitere Tiere stossen, die derzeit im Hangar gezeigt und getestet werden.

Unterschiedliche Wahrnehmung

In den Werkstätten von «La Machine» entsteht im Moment der erste von zwei Reihern, die dem Baum den Namen geben. 5 bis 6 Flüge pro Stunde mit bis zu 16 Passagieren soll jeder Reiher absolvieren, wenn er eines Tages auf der Krone des Baums montiert ist. Der Vogel schlägt gemächlich mit den Flügeln, bewegt den Hals und öffnet und schliesst den Schnabel ganz wie sein biologisches Vorbild. Die beweglichen Skelette der Tiere sind aus Stahl, die Körperoberflächen aber durchwegs aus Holz gefertigt. «Es wird sein wie bei unserem Elefanten: Die Kinder sehen einfach die Tiere, die Erwachsenen nehmen eher die Mechanik wahr und studieren die Funktionsweise. Das ergibt spannende Gespräche», hofft Orefice. «Die Faszination unserer Maschinen liegt schliesslich auch darin, dass man sieht, wie sie funktionieren. Viele Leute können heute selbst einfache Dinge nicht mehr selbst reparieren. Wir machen die Mechanik erlebbar.»

Traditionelle Handwerksfertigkeiten

Frédette Lampre (Bild), Medienverantwortliche von «La Machine», führt durch die Werkstätten. Hier wird nichts mit Plastik oder mit Gussformen gefertigt. Alles wird mit traditionellen Handwerkstechniken hergestellt. Auch Schreiner sind im Team sowie Holzschnitzer von Kunsthochschulen. «Die Bemalung erfolgt von Hand und so, dass die Schnitzereien hervorgehoben und nicht übertüncht werden», erklärt Lampre. Im Team sind auch Ingenieurinnen und Ingenieure, die sich um die Steuerung der Mechanik kümmern oder 3D-Modelle nach den Holzmodellen auf die Endgrösse hochrechnen. Die Modelle werden dann wiederum mit handwerklichen Methoden umgesetzt. Die Statik wird von einem Planungsbüro berechnet.

Viele kreative Köpfe am Werk

«Die naturgetreue Beweglichkeit ist wichtig. Denn das berührt die Leute. Unser Ziel ist stets, dass die Bewegungen so echt wie möglich ausfallen. Das ist dann fast wie eine universelle Sprache, die jeder versteht. Wie Musik», sagt Lampre. Dafür braucht es kreative Fachleute. Die Anzahl wechselt je nach Grösse und Komplexität der Maschinen. «Für die beiden Reiher beschäftigen wir im Moment vier Kunstmaler, vier Schreiner, zwei Schnitzer, acht Mechaniker, zwei Hydrauliker, zwei Robotiker und eine Korbmacherin. Zudem sind zwei bis drei Leute aus unserem Planungsbüro dran», erläutert sie. An der Endplanung des Baumes seien 25 Ingenieure Vollzeit drei Jahre beschäftigt gewesen, ergänzt sie. Im Schnitt gibt es 20 Dauerarbeitsplätze, die sich 30 Fachleute teilen. Bei Arbeitsspitzen kann die Zahl der Mitarbeitenden auch gegen 100 gehen. Lampre erzählt weiter: «Gerade sind wir daran, die Reiher zu verkabeln. Das ähnelt fast dem Einziehen von Blutgefässen.» Später sollen sich die Vögel samt Passagieren zehn Meter über den Baumwipfel erheben und so die Rundumsicht auf 45 Meter Höhe geniessen.

Die Flügel der riesigen Reiher sind je sieben Meter lang. Die Schwungfedern haben bis zu drei Metern Länge. Es dauerte einige Zeit, bis ein geeignetes Material für das Gefieder gefunden wurde. Es musste flexibel sein und leicht, dabei aber auch dem Wind standhalten können. Die Wahl fiel schliesslich auf Karbon.

Ameisen, Spinnen und Paradiesvögel

Ab 2027 werden die Vögel die ersten Passagiere auf dem Baumwipfel abheben lassen. Zudem tummeln sich dann 28 mechanische Tiere in den Ästen. Im Moment laufen die letzten Tests an den mechanischen Tieren. Paradiesvögel balzen, gigantische Ameisen und unheimliche Spinnen bewegen sich naturgetreu durch die Werkshalle. Am Stamm des fertigen Baums soll später eine ganze Ameisenkolonne hinaufkrabbeln.

Man kann sich nach dem Besuch im Hangar lebhaft vorstellen, wie eindrücklich diese Tiere in Kombination mit dem reich bepflanzten, künstlichen Baum dereinst wirken werden.

www.lamachine.frwww.lesmachines-nantes.fr

Alexandra von Ascheraden

Veröffentlichung: 18. August 2022 / Ausgabe 33/2022

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