Ein Kirchenfenster auf dem Kopf

Rund 500 Stunden Arbeit steckt Schreinermeister Franz Holzgang (84) aus Küssnacht am Rigi in das Anfertigen einer Inful. Bild: Caroline Schneider

Der 84-jährige Franz Holzgang brütet über seiner neusten Skizze und betrachtet aufmerksam die Muster, die aussehen wie Mandalas. Der Schreinermeister tüftelt an einer Inful (gesprochen «Iffele») für das nächste Klausenjagen, einen alten St.-Nikolaus-Volksbrauch, der jeweils am 5. Dezember in Küssnacht am Rigi stattfindet. Rund 500 Arbeitsstunden steckt er in die Anfertigung einer Inful. Wenn er nachts nicht schlafen könne, studiere er oft an den Formen und Farben herum. Denn: «Jeder, der eine Inful baut, muss seine ureigene Form selbst suchen», erklärt er. Inspiration für seine Meisterstücke holt er sich bei den «grossen» Kirchenfenstern der Notre Dame oder dem Strassburger Münster. Er könne stundenlang vor den Kirchenfenstern stehen und sie studieren. Seit seiner Pensionierung hat er vier grosse «Iffelen» hergestellt. «Im Erwerbsleben hast du keine Zeit dazu. Nebst den unzähligen Arbeitsstunden braucht es vor allem Geduld und Wille», erklärt er auf dem Weg zum Dachboden, wo er seine Kunstwerke aufbewahrt. Er zündet seine grösste «Iffele» an. Eine sakrale Atmosphäre breitet sich im Raum aus. Ge- baut werden die «leuchtenden Bischofshüte» aus Karton und farbigem Seidenpapier. Franz Holzgang zeichnet das Muster zuerst auf Papier, heftet dieses auf den Karton und durchsticht den Karton mit einem Bildhauereisen. Von hinten klebt man dann das farbige Seidenpapier auf. Holzgang stellt seine «Iffele» nach alter Tradition her. Drei Elemente gehören unabdingbar dazu: der Klaus, das Kreuz und die Buchstaben JHS, dem Monogramm Jesu. JHS steht für Jesus Hominium Salvator oder Jesus Heiland Seeligmacher, wie die Abkürzung im Volksmund genannt wird. Stolz betrachtet der Künstler seine «Iffele», streicht über den Kartonrand und sagt: «Sie hat Wirkung. Am Umzug klatschen die Leute jedes Mal, wenn sie erscheint.»

Das Chlausjagen am 5. Dezember ist so etwas wie der Höhepunkt des Jahres für das Rigidorf. Pünktlich um 20.15 Uhr geht jeweils die Beleuchtung aus. Pechschwarze Nacht legt sich dann über das Städtchen – gespenstische Stille breitet sich aus. «Geislechlöpfer» eröffnen peitschenknallend den Umzug. Und dann spielt sich ein gewaltiges Lichtspektakel ab: Rund 200 in weisse Hirtenhemden gekleidete «Iffeleträger» tänzeln lautlos durch die andächtig stillen Gassen. Jeder von ihnen trägt eine mit Kerzen beleuchtete Inful auf dem Kopf. Sie sehen aus wie hell erleuchtete Kirchenfenster. Holzgang, der mit dieser Tradition gross geworden ist und bis heute keinen einzigen Umzug verpasst hat, sagt: «Noch heute läuft es mir kalt den Rücken herunter, wenn die Träger mit ihren ‹Iffelen› durch die dunklen Gassen huschen.» Und was verbirgt sich hinter diesem Volksbrauch?

«Die Wurzeln gehen zurück auf ein heidnisches Fruchtbarkeitsritual zur Wintersonnenwende. In einer wilden Jagd versuchten die Menschen, mit Schellen und Geisselknallen böse Geister zu vertreiben», erklärt der Küssnachter. Später artete der Brauch aus. 1928 wurde die Küssnachter St.-Niklausengesellschaft gegründet, um das Fest wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Insgesamt ein Brauch mit viel Glauben oder Aberglauben. «Ob Glaube oder Aberglaube, ist unwichtig. Wichtig ist, dass man an etwas glaubt», findet Holzgang und betrachtet gedankenversunken seine Infuln.

«Ob Glaube oder Aberglaube, ist unwichtig. Wichtig ist, dass man an etwas glaubt.»

cs

Veröffentlichung: 24. März 2016 / Ausgabe 12/2016

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