«Früher flogen die Späne herum»


Die Dekupiermaschine im Schreinermuseum funktioniert noch. Bild: Martin Egbert
Die Dekupiermaschine im Schreinermuseum funktioniert noch. Bild: Martin Egbert
Schreinermuseum. Wenn Dieter Wessling die Dampfmaschine anschmeisst und einen Blick in den Transmissionsschacht freigibt, staunen die Besucher des Bremer Schreinermuseums. Dieses war vor über hundert Jahren eine Schreinerei mit den modernsten Holzbearbeitungsmaschinen.
Heinrich Seebach und Gustav Deckwitz waren zwei mutige Schreinermeister, die 1889 in die neue Technik investierten: Sie eröffneten in Bremen (D) eine Schreinerei mit Dampfbetrieb. Die Herren bauten ein neues Werkstatt- und Fabrikgebäude und installierten einen Maschinenpark, der damals zum Modernsten gehörte, was der Markt an Holzverarbeitungstechnik zu bieten hatte. Weil es Strom noch nicht gab, waren die Maschinen an eine im Boden verlaufende Transmissionsanlage angeschlossen, die wiederum von einer zweizylindrigen, 25 PS starken, amerikanischen Westinghouse- Dampfmaschine angetrieben wurde – damals gerühmt wegen ihres ruhigen Gangs, der hohen Drehzahl und ihrer einfachen Handhabung.
Mit dem Ensemble an unterschiedlichen Säge-, Hobel- und Bohrmaschinen produzierten die bis zu 25 angestellten Schreiner nicht nur Holzbauteile und Möbel für das eigene Unternehmen, sondern führten auch Auftragsarbeiten für andere handarbeitende Betriebe in der Gegend aus, um die Dampfmaschinen-Anlage auszulasten.
Doch das Konzept ging nicht auf, die Investitionen waren zu hoch gewesen für einen gewinnbringenden Betrieb. Bereits zwei Jahre nach der Eröffnung mussten Seebach und Deckwitz ein Konkursverfahren durchlaufen und ihre Dampfschreinerei in fremde Hände abgeben. Fast 20 Jahre lang versuchten verschiedene andere Handwerker erfolglos ihr Glück, bis 1909 der Bremer Schreiner Hermann Otto übernahm. In seiner Familie blieb das Unternehmen über mehrere Jahrzehnte. Erst 1986 war die Arbeit mit den alten Geräten endgültig unrentabel geworden, und der Betrieb wurde bei der Handwerkskammer abgemeldet.
Die Maschinen allerdings blieben erhalten: Zusammen mit dem alten Werkstattgebäude bilden sie heute den Hauptbestand des Schreinermuseums Bremen, das die örtliche Tischler-Innung im Jahr 1995 eröffnete und das im Wesentlichen von einem Förderverein am Laufen gehalten wird. «Wir gehen davon aus, dass unser Schreinermuseum auf der Welt einmalig ist», sagt Dieter Wessling, der als einer von mehreren Ehrenamtlichen Museumsführungen für interessierte Gruppen anbietet. «Hier stehen noch die Originalmaschinen vom Ende des 19. Jahrhunderts, und die funktionieren praktisch alle noch.»
Wessling ist selbst Schreinermeister und leitete bis vor zehn Jahren seinen eigenen Betrieb, den er inzwischen an seinen Sohn übergeben hat. Einen Teil seiner freien Zeit investiert er seither in die Museumsarbeit – «aus Spass an der Freude», wie er sagt. «Das ist ja mein Beruf, darum finde ich dies interessant.» Eine spezielle Einarbeitung habe er nicht gebraucht. «Wenn man hier als Schreiner durchgeht, weiss man, was mit den Maschinen gemacht wird», sagt der 73-Jährige. Und so berichtet er seinen Gästen im Museum nicht nur fachkundig und kurzweilig, wie das Arbeitsleben in einer Schreinerei vor mehr als hundert Jahren aussah, sondern hat dabei auch die eine oder andere Anekdote parat.
Zum Beispiel erzählt er, wie sich die Nachbarn in den ersten Jahren über den Qualm im Hinterhof beschwerten, der durch den anfänglich mit Kohle betriebenen Dampfkessel hervorgerufen wurde und die aufgehängte Wäsche verdreckte. Oder jene vom Eber- Penis, der in der Werkstatt von 1854 hängt und mit dem früher Schrauben und Sägeblätter eingefettet wurden.
Der Rundgang beginnt direkt am Eingang zum grossen Maschinensaal mit einer Erläuterung der fussbetriebenen Werkzeugschleifmaschine und eines Apparats zum Bandsägenlöten – und folgt anschliessend dem Arbeitsablauf, wie er früher in der Werkstatt vonstattenging. Da ist die Pendelsäge, die ein Brett auf Länge geschnitten hat. Dann die Kreissäge, die es auf die richtige Breite brachte. Zudem der Abrichter, der Dickenhobel, die Zapfenschneidemaschine, die Furnierpresse, der Leimofen und vieles andere mehr.
Noch heute stehen die Geräte genauso wie Ende des 19. Jahrhunderts. «Früher sind hier überall Späne durch die Gegend geflogen», berichtet Dieter Wessling. «In einer modernen Werkstatt wird dies alles direkt abgesaugt.» Es ist einige Jahrzehnte her, dass hier das letzte Mal Späne geflogen sind. An den Wänden sind Haltevorrichtungen angebracht, in denen noch immer Hobel, Sägeblätter, Bohrer und Hunderte von Profilmessern für die Kehlmaschine lagern.
Eine besondere Geschichte hat Dieter Wessling zur Kehlmaschine zu erzählen, die zum Fräsen von Profilen eingesetzt wurde und mit verschiedenen, unterschiedlich geformten Messern bestückt werden konnte. Ein gefährliches Gerät, wie ein Polizeiprotokoll von 1954 belegt: «Bei Familie Müller in der Poststrasse 4 ist ein Maschinenteil eingeschlagen», heisst es da. Die Anwohner hätten sich beschwert, dass von der Werkstatt eine «tödliche Gefahr» ausgehe.
Und gefährlich war der Kehlbock nicht nur für die Nachbarn, sondern auch für die Schreiner. «Einige haben hier Finger verloren, manche sogar ihre ganze Hand», sagt Wessling. Bei 2000 bis maximal 3000 Umdrehungen pro Minute sei es häufig vorgekommen, dass sich ein eingespanntes Messer gelöst habe und aus der Halterung geflogen sei. «Wenn so etwas passiert, kommt ein Porsche nicht mit: Das hat eine enorme Beschleunigung.» Er selbst habe Glück gehabt, sagt der 73-Jährige und hält seine linke Hand hoch, an deren Zeigefinger das Endglied fehlt: «Mir ist nur einer abhanden gekommen.» Schuld daran war allerdings nicht der Kehlbock, sondern eine Kreissäge in seinem eigenen Betrieb, die er eines Tages kurz vor Feierabend unvorsichtig bediente – weil er es eilig hatte.
Einer der Höhepunkte der Führung ist der Moment, als Dieter Wessling die Dampfmaschine anschmeisst und vom Fussboden einen Teil der Abdeckung anhebt, die den Transmissionsschacht überdeckt. Zwischen 1900 und 1903 war die Anlage von Kohle- auf Gaskraft umgerüstet worden, ab 1920 erfolgte eine sukzessive Umstellung auf den Einzelantrieb der Maschinen durch separate Elektromotoren.
Als die Tischler-Innung die Räume in den 1990er-Jahren übernahm und zum Museum umfunktionierte, gelang es dem Förderverein, in den Niederlanden eine Original-Westinghouse-Dampfmaschine zu erstehen. Heute läuft sie elektrisch und ist erstaunlich leise, wenn sie langsam und gemächlich die Riemen der Transmissionsanlage in Bewegung setzt.
Auch wenn inzwischen viele Möbel in Serie gefertigt werden und in modernen Schreinereien längst die Computertechnik Einzug gehalten hat: Letztlich habe sich an der Grundkonzeption der Holzbearbeitungsmaschinen im Laufe der Jahrzehnte gar nicht so viel verändert, sagt Wessling. Die Säge sägt, die Fräse fräst, der Hobel hobelt. «Anders ist nur, dass die Motoren heute stärker sind und die Holzbearbeitung dadurch schneller geworden ist.» So würden Geschwindigkeiten von 10 000 Umdrehungen pro Minute und mehr erreicht. Zudem seien die modernen Maschinen sicherer – schwere Unfälle wie die am Kehlbock seien im Prinzip nicht mehr möglich: «Der Flugkreis der Messer beträgt wenige hundert Millimeter, bei Hochleistungsmaschinen sogar nur tausendstel Millimeter. Schutzvorrichtungen machen es fast unmöglich, mit den Fingern in die Messer zu kommen. Und bei Gefahr stellen sich die Maschinen automatisch ab.»
Die Arbeit mit Holz macht dem Mann so viel Spass, dass er noch immer fast täglich in seiner früheren Werkstatt aktiv ist und kleine Dinge wie Nistkästen, Futterhäuschen und Insektenhotels baut. Und auch die ehrenamtliche Arbeit im Schreinerei-Museum möchte er noch möglichst lange fortführen – um Geschichten aus der Zeit zu erzählen, als die Schreiner anfingen, mit Maschinen zu arbeiten.
Veröffentlichung: 29. August 2019 / Ausgabe 35/2019
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