Hier fühlen sich Lernende verstanden

Wenn Berufsbildner Michael Müller (l.) etwas erklärt, hören die Lernenden gut zu. Bild: Beatrix Bächtold

Ausbildung.  Gleich acht Jugendliche mit speziellem Förderbedarf machen in Michael Müllers Schreinerei Holzkunsthaus im zürcherischen Sünikon eine Lehre. Möglich machen dies mehrere Umstände, die dort in idealer Weise zusammenspielen.

Vor ziemlich genau zehn Jahren machte sich der gelernte Schreiner Michael Müller selbstständig. Der damals 29-Jährige mietete ein altes Bauernhaus, spitzte die Futterkrippe des Kuhstalls eigenhändig heraus, verlegte neue Böden und baute es zur Werkstatt um. In einer zweiten Phase verkaufte er sein geliebtes Auto und erwarb mit dem Erlös die zum Betrieb nötigen Maschinen. Anfangs arbeitete er alleine. «Ich merkte schnell, dass mir das so keine Freude macht. Schliesslich bin ich im sozialen Alltag aufgewachsen», erklärt er rückblickend.

Der Vater von Michael Müller führt nämlich einen Bauernhof, auf dem er Jugendliche mit speziellem Förderbedarf ausbildet. Auch Michael Müller machte bei seinem Vater die Ausbildung zum Landwirt, im Anschluss an die Schreinerlehre und vor dem Studium zum Sozialpädagogen. Und wenn man weiss, dass auch seine Mutter Sozialpädagogin ist, ist der Fall eigentlich klar. «Das soziale Engagement liegt mir in den Genen. Ich bin mit Jugendlichen mit speziellem Förderbedarf aufgewachsen, und so war es nur logisch, wen ich mir in meine Werkstatt holen werde», sagt er. Zudem seien zwei seiner angestellten Schreiner auch Sozialpädagogen.

Lehrbetriebsverbund beteiligt sich

Müller suchte den Kontakt zu axisBildung, einem vom Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Zürich (MBA) anerkannten Lehrbetriebsverbund. Dieser schloss mit dem Schreiner einen Lehrverbundsvertrag ab. axisBildung trägt zudem die Mehrkosten der Betreuung, steht Müller mit Rat und Tat zur Seite und tritt als Leitbetrieb und Lehrmeister auf.

Bald stand der erste Lernende an der Werkbank. «Er war 18 Monate lang bei uns und schloss seine Ausbildung in der freien Wirtschaft mit der Note 5,2 ab», erzählt Müller. Kürzlich, als Holzkunsthaus den zehnten Geburtstag feierte, kam auch dieser erste Lernende zu Besuch. «Es passiert häufig, dass Jugendliche, die bei uns die Ausbildung gemacht haben, später vorbeischauen. Das freut uns immer.» Und, dem dualen Bildungssystem sei Dank, passiert es gelegentlich, dass ein Jugendlicher während der Schreinerlehre merkt, dass sein Herz eigentlich für einen anderen Beruf schlägt.

«Anschlusslösungen sind möglich. Zum Beispiel ist jemand bei uns gestartet, der heute aber im Bestattungswesen tätig ist», sagt Müller. Andere Jugendliche würden im Pflegebereich oder in der Kinderbetreuung arbeiten. Für ihn ist die Ausbildung der Jugendlichen im Holzkunsthaus eine Lebensaufgabe, die er mit viel Freude und Engagement ausführt. «Aber es ist auch wichtig zu sagen, dass es nicht einfach ist und viel Zeit und Geduld braucht», erklärt er. Alleine die Aufgabenhilfe für die Berufsschule nimmt pro Lernenden einen halben Tag pro Woche ein.

Auch beruflich erhalten die Jugendlichen bei Müller einige Stunden pro Woche Unterstützung in einer speziellen Trainingseinheit, welcher der Chef den Namen «Bildungswerkstatt» gegeben hat.

Vier der acht Jugendlichen, die gerade bei Holzkunsthaus eine Lehre machen, erzählen, wie das im Detail funktioniert.

Die Lehre fühlt sich total gut an

Xenia Studer lebt in Steinmaur in einer Wohngemeinschaft. «Ich hatte eine schwierige Kindheit, kam früh ins Heim. In der Schule hatte ich Mühe mitzuhalten und benötigte einiges mehr an Unterstützung als meine Kollegen», erzählt die 18-Jährige. «Natürlich schlug mir das auf die Psyche. Momentan fühlt es sich aber total gut an, dass ich eine Lehre machen darf. Ich bin zuversichtlich, dass ich im kommenden Sommer das Eidgenössische Berufsattest (EBA) erlange.» Schon in der Schule habe ihre Lehrerin gesagt, dass sie im Umgang mit Holz mega begabt sei. Sie hatte recht. «Mir gefällt mein Beruf, obwohl er körperlich recht anstrengend ist.» Das Team sei gut, und sie fühle sich verstanden. Die Arbeitskollegen helfen ihr. Nicht nur beruflich. «Ich kann auch mit privaten Problemen zu ihnen kommen.»

Dann zückt Xenia Studer ihr Handy und zeigt Fotos von vier glänzenden, wunderschön geformten Schneidbrettern. «Die durfte ich kürzlich für einen Kunden machen. Ja, auf meine Arbeit bin ich voll stolz», erklärt sie und sagt dann, dass sie sich «mega gut» vom Ausbilder verstanden fühle. Er sei anders als alle anderen Chefs. Studer nennt ihn augenzwinkernd «Big Boss» und erklärt dann, das eben dieser Big Boss über viel Humor verfüge. «Es gibt Momente, da blödelt er richtig mit uns. Das tut uns allen gut.» Xenia Studer liebt Kinder. Wenn sie von ihrem Brüderchen erzählt, strahlt sie. Sie fügt an: «Eine Anschlusslösung in einer Kinderkrippe wäre mein Traum.»

Beeinträchtigung hält ihn nicht auf

Micha Schulz kommt aus dem Kanton Aargau. «Ich war bei der Berufswahl unsicher und machte mehrere Schnupperlehren. Aber es war schwierig, denn ich bin Halbautist und habe auch Sprachstörungen», berichtet der 17-Jährige völlig frei und sympathisch. Schulz ist ein Denker. Er hat ein feines Gespür für Situationen und Menschen, aber aufgrund seiner Beeinträchtigung kann er oft Redewendungen nicht richtig interpretieren. Weil der Aargauer ein kluger Kopf ist, kann er sich viele Dinge speziell genau merken. In der Berufsschule Winterthur liebt er die Fächer Grammatik, Realien, Chemie und Physik. «Bei der täglichen Arbeit liebe ich das Schleifen. Mir gefällt es, den weichen Werkstoff zu spüren, zu bohren und etwas zusammenzuschrauben», schwärmt er.

Im Moment sieht Micha Schulz der EBA-Abschlussprüfung mit Bangen entgegen. «Wenn ich es schaffe, bin ich sehr stolz auf mich und werde das mit meinen Eltern feiern», erklärt er. Doch bereits jetzt macht er sich Gedanken über die Zukunft. Er sagt: «Ich glaube, ich habe gute Chancen, eine EFZ-Lehre anzuhängen.»

Durchhalten lohnt sich

Gustav Stähli kommt jeden Morgen aus Zürich mit dem ÖV zur Arbeit. «Ich habe als Maler, als Gärtner und im Pflegeheim geschnuppert. Und als jemand sagte, ich solle doch Schreiner machen, fand ich es eine tolle Idee. Als ich die Zusage vom Lehrbetrieb bekam, habe ich mich riesig gefreut», erklärt der 18-Jäh- rige. Stähli pendelt einmal pro Woche, wie auch alle anderen Lernenden des Betriebs, zur Berufsschule nach Winterthur. «Im Unterricht habe ich kaum Mühe, eher beim Praktischen.» Er tut sich mit der Feinmotorik schwer. «Aber ich habe Geduld und lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Ich finde, dass sich für mich das Durchhalten lohnt», erzählt er. Gustav Stähli ist mit seiner Berufswahl zufrieden. «Schreiner ist lässig. Ich bleibe meinem Beruf treu.»

Michel Fehr absolviert gerade die EFZ-Schreinerlehre. Eine Ausbildung zum Automechaniker und eine erste zum Schreiner in einem Grossbetrieb brach er ab. «Die Chemie stimmte nicht. Ich musste viel berufsfremde Arbeiten erledigen», erklärt der 21-Jährige. Hinzu kommt, dass Fehr in seiner frühen Jugend «Seich» machte, wie er es ausdrückt. Durch die Jugendanwaltschaft kam der junge Mann über den Lehrbetriebsverbund axisBildung zu Holz- kunsthaus nach Sünikon. «Hier fühle ich mich total wohl. Ich hatte wirklich nie so einen guten Chef.» Es sei genau das richtige Verhältnis von Distanz und Nähe. Sie würden sich Du sagen, erklärt er. Mit deutlich erkennbarem Berufsstolz fügt er hinzu, dass er gerade an einem schönen Bilderrahmen arbeite und kürzlich eine massive Eichentür, ein praktisches Nachttischli und einen wunderbaren Tisch aus europäischem Nussbaum angefertigt habe.

Chef Michael Müller erklärt, dass Michel Fehr nach bestandener Abschlussprüfung und ein paar Jahren Praxis in der freien Wirtschaft später ohne Weiteres bei ihm nach einem Job anfragen dürfe.

Holzkunsthaus

Wirtschaft und Soziales vereint

Die Holzkunsthaus GmbH befindet sich im zürcherischen Sünikon und ist im Bereich Möbel, Innenausbau, Schreinerarbeiten und Renovationen tätig. Die Schreinerei von Michael Müller vereint Wirtschaft und soziales Engagement. Der Verbundbetrieb von axisBildung Bülach bietet jungen Menschen mit psychosozialen Problemen oder Lernschwierigkeiten Arbeitsplätze an. Ziel ist deren Einstieg in die reguläre Arbeits- und Berufswelt.

 

www.holzkunsthaus.ch
www.axisbildung.ch

beb

Veröffentlichung: 05. September 2019 / Ausgabe 36/2019

Artikel zum Thema

02. Mai 2024

Eine Regalproduktion als Werbung in eigener Sache

Um den Beruf der Schreinerin und des Schreiners Schülerinnen und Schülern vorzustellen, haben die Lernenden der Röthlisberger Innenausbau AG in Gümligen ein 45-minütiges Video gedreht. Jasmin Bieri erzählt, wie das gelaufen ist.

mehr
02. Mai 2024

Klein, pfiffig und mit Enthusiasmus hergestellt

Beim Lernendenwettbewerb des VSSM Kanton Zug haben neun Personen teilgenommen und ein Objekt eingereicht. Dominic Odermatt (2. Lehrjahr) und Tobias Huwyler (3.) haben die Aufgabe am besten gelöst.

mehr
02. Mai 2024

«Die Genauigkeit einer CNC beeindruckt mich»

Im Rahmen des überbetrieblichen CNC-Kurses am Berufsbildungszentrum Emme in Langnau BE hat Daniel Beer einen Schrank hergestellt. Die Arbeit am Bearbeitungszentrum war für den 19-Jährigen allerdings nicht neu. Weshalb, erzählt er im Monatsinterview.

mehr

weitere Artikel zum Thema:

Lehrziit