Intelligenz aus der Wolke

Künftig wird der Mensch die Prozesse nicht mehr selber steuern, sondern nur noch koordinieren. Bild: Berner Fachhochschule

Smart Factory.  Die Digitalisierung beherrscht immer mehr die Produktionsprozesse – auch in der Schreinerbranche. Die Berner Fachhochschule forscht an der Smart Factory, die eine hochflexible, vollautomatische Produktion ermöglicht. Ein Blick in die Werkstatt der Zukunft.

Kleine und mittlere Handwerksbetriebe sind in Sachen Digitalisierung sehr aktiv. Die Anstrengungen zielen meistens in Richtung Computerisierung und Automatisierung, was unter dem Begriff Industrie 3.0 zusammengefasst wird. Der Fokus liegt auf der Integration, also in der durchgängigen, prozessorientierten Verbindung verschiedener Lösungen. Bisherige Muster bleiben erhalten: Die Abläufe sind hierarchisch strukturiert und zentral organisiert.

Wirtschaftliche Revolution

Ob eine Säge manuell, mit Dampf oder elektrisch angetrieben wird: Es ist im Grunde immer der gleiche Prozess, er wird durch den Fortschritt einfach schneller und präziser. Gelenkt wird er durch einen Menschen. Durch neue Technologien und die massiv gesteigerte Leistungsfähigkeit von Computern sind heute indes Dinge möglich, die bisher undenkbar waren. Das ist revolutionär in der Wirtschaftsgeschichte.

Neu stehen komplexe Systeme zur Verfügung, die sich nicht mehr vollständig beschreiben lassen, obwohl man komplette Informationen über alle einzelnen Elemente hat. Anstelle einer menschlichen Steuerung tritt eine direkte Kombination von Elementen. Der Mensch nimmt damit eher die Rolle eines Dirigenten oder Koordinators ein. Der genaue Prozess der zu erledigenden Aufgabe ist ihm vorher nicht bekannt. So ist es beispielsweise möglich, dass eine Maschine ein Werkstück bearbeitet, ohne dass ein Mensch genau definiert hat, welchen Weg die Maschinenspindel abzufahren hat und wie viele Bohrungen notwendig sind. Das beschriebene Beispiel ist vergleichsweise einfach. Werden zusätzlich neue Technologien wie Robotik, autonome Transportsysteme und additive Fertigungsmethoden vernetzt, sind noch sehr viel komplexere Produktionsumgebungen denkbar, wobei sich die Komplexität nur auf den Aufbau des Prozesses bezieht. Die Bedienung wird einfacher und der Betrieb leistungsfähiger, flexibler, idealerweise gar autonom.

Wünsche werden realistisch

Die neuen Möglichkeiten haben eine grosse Wirkung. Sie verändern die Infrastruktur und die Arbeitsweise. Vor allem verändern sie aber die Marktbedürfnisse. Latent schlummernde Kundenwünsche werden auf einmal realistisch, gar zur Gewohnheit, und sie entwickeln sich zu konkreten Erwartungen. Die Anforderungen steigen. Produkte werden nochmals individueller, und die Lieferzeiten sinken, während der Informationsaufwand steigt. Alles ist jeder-zeit und überall verfügbar. Auf Englisch spricht man vom «Triple A»: Available, Anywhere, Anytime.

Die Smart Factory macht es möglich. Dabei handelt es sich um die Vision einer selbst lernenden, selbst steuernden, vollautomatischen Produktion in Losgrösse 1, und das in hoher Qualität zu einem Preis der Massenproduktion. Losgrösse 1 bedeutet, dass ein Produkt fertig entwickelt, kalkuliert und geprüft ist und die Prozesse darauf optimiert sind. Von diesem Produkt wird dann ein einzelnes Stück nach kundenindividuellen Parametern produziert.

Während die Industrie die Massenproduktion individualisieren muss, ohne an der bestehenden Produktivität oder Qualität einzubüssen, haben Handwerksbetriebe andere Herausforderungen. Sie müssen die Individualanfertigungen zu kostengünstigen, schnell verfügbaren Qualitätsprodukten entwickeln, die mit industrieller Ware konkurrieren können. Die Herausforderungen und die Skalierung mögen unterschiedlich sein, aber die Rezepte ähneln sich.

Technologie steuert sich selbst

In der Werkstatt der Zukunft erhalten Maschinen, Werkzeuge und Produkte eine eindeutige Identifikation und kommunizieren über eine Dateninfrastruktur, zum Beispiel das Internet der Dinge. Man spricht in diesem Zusammenhang von Cyber-physischen Systemen (CPS), von digitalen Zwillingen, von smarten Produkten. Dabei können auch noch weitere Informationen mitverbunden sein, beispielsweise Zustands-, Mess-, Prozess- oder Positionsdaten.

Dank dieser Daten ist es nun möglich, die Produktionsprozesse selbst steuernd aufzubauen. Das Werkstück erhält fortlaufend alle notwendigen Informationen für den gesamten Produktions- und Logistikprozess. Die Anlagen erkennen ihren aktuellen Zustand und können bedarfsgerecht und teilebezogen produzieren. Wartungsintervalle und Werkzeugwechsel werden vorhergesagt. Dank selbstständigem Machine Learning wird das System laufend stabiler und besser.

Eine vollautomatische Produktion wird so zumindest denkbar. Es mag sein, dass diese Vision noch nirgends vollständig Realität geworden ist. Doch es gibt Beispiele aus anderen Branchen, die nahe dran sind. Der Weg zu einer solchen Werkstatt der Zukunft erfolgt schrittweise. Voraussetzung ist ein guter digitaler Reifegrad auf Stufe 3.0, eine papierlose und datenbasierte Produktion.

Serviceorientierte Funktionen

Die Werkstatt der Zukunft birgt einige Paradigmenwechsel. Die Informations- und Kommunikationstechnologie wird dezentral (Cyber-physische Systeme, Cloud). Die Bedeutung grosser, zentraler, hierarchisch strukturierter Software weicht zugunsten kommunizierender Apps, und die Funktionen werden serviceorientiert. Aus der klassischen Automatisierungspyramide wird ein Netz in der Cloud. Anstelle herstellergebundener Systeme treten offene Standards. Die generierten Datenmengen sind dabei zu gross, zu schnelllebig oder zu schwach strukturiert, um sie mit manuellen und herkömmlichen Methoden auswerten zu können (Big Data). Doch die Leistungsfähigkeit der Systeme erlaubt Analysen, Prognosen und Simulationen in Echtzeit. Die Gesamtheit der verfügbaren Daten wird für Mustererkennung und Korrelation eingesetzt.

Arbeitsformen ändern sich

Es scheint eine logische Folge zu sein, dass solche Paradigmenwechsel auch neue Arbeitsformen mit sich bringen. Routinetätigkeiten nehmen ab. Anstelle der klassischen, auftragsbezogenen Arbeitsvorbereitung tritt vermehrt das Engineering. Anstelle eines Werkplans mit Stückliste tritt eine abstraktere Produktentwicklung, die kundenspezifisch zusammengesetzt und parametriert wird, im Idealfall sogar durch den Kunden selbst. Die Produktionsdaten werden dann automatisch generiert. Komplexe Projekte sind nicht mehr voll-ständig planbar und werden deshalb mit agilen Methoden bearbeitet. Insgesamt ist zu erwarten, dass sich die Arbeitsweise in Richtung mobil, flexibel, transparent, pro-jektorientiert, agil, lean und hierarchielos entwickelt.

In der Bau- und Holzbranche scheinen diese Veränderungen besonders schwierig, ver- mutlich weil die Bauprozesse in Phasen normiert sind und sich die bisherige Denkweise tief verankert hat. Wirklich aufhalten lässt sich die Veränderung jedoch nicht. Die zunehmende Wettbewerbsintensität wird die Entwicklung vorantreiben.

Das Forschungsprojekt

Beispielhafte Fertigungskette

Die Berner Fachhochschule (BFH) baut gemeinsam mit der Wissenschaftsplattform Swiss Smart Factory und mehreren Wirtschaftspartnern an der Werkstatt der Zukunft. Dabei werden Umsetzungskonzepte der Industrie 4.0 für Holz verarbeitende KMU angepasst. Nebst der Schaffung einer beispielhaften, digitalen Fertigungskette wird der Bearbeitungsprozess von platten- und stabförmigen Halbfabrikaten modelliert, die Vernetzung einzelner Komponenten ermöglicht sowie die Datendurchgängigkeit hergestellt. Das Ziel ist der Aufbau einer Entwicklungs-, Test-, Demonstrations- und Lernumgebung im Massstab 1:1.

Unterstützung für die Holzbranche

Angestossen wurde das Forschungsprojekt durch die Initiative Wald & Holz 4.0. Diese fördert, begleitet und unterstützt die Wald- und Holzwirtschaft im tiefgreifenden Wandel, der durch die digitale Transformation ausgelöst wird. Acht Branchenverbände, darunter auch der Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten (VSSM), und 60 Unternehmen sind aktiv als Projektpartner beteiligt. Der Wissenstransfer wird gefördert, und es werden praxistaugliche Instrumente entwickelt, welche die Unternehmen in der Digitalisierung unterstützen. Die Initiative wird vom Bund im Rahmen des Aktionsplans Holz (2017 bis 2020) unterstützt. Dazu kommen finanzielle Beiträge der beteiligten Unternehmen und Organisationen sowie namhafte Eigenleistungen der BFH und ihrer Partner.

www.wh40.chwww.bfh.ch

ZUM AUTOR

Rolf Baumann (RB) wirkt an der Berner Fachhochschule (BFH) als Dozent für Wirtschaftsinformatik, er leitet das Institut für digitale Bau- und Holzwirtschaft (IdBH), den Bereich Forschung & Entwicklung, Dienstleis- tungen, Weiterbildung und ist Mitglied der Departementsleitung Architektur, Holz und Bau. Baumann ist zudem Mitglied der Projektleitung der Initiative Wald & Holz 4.0. Früher sammelte der 50-Jährige berufliche Erfahrungen als Schreiner, Holzingenieur, Unternehmer und Geschäftsleitungsmitglied eines Softwareunternehmens.

rb, sz, sz

Veröffentlichung: 09. April 2020 / Ausgabe 15/2020

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